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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
7.3.1 Wirtschaftsplan und Naturalrechnung ( 1925 )
Auch während der Zeit des Wiener Kreises äußert sich Neurath in Wirtschaftsplan und
Naturalrechnung , nachdem er sich eingehend mit dem Zusammenhang von Lebenslagen
und Wirtschaftsplan auseinandergesetzt hatte , über seine Utopie einer sozialistischen Ge-
meinschaft , die er als glückliche irdische Liebesgemeinschaft denkt :
Ein Sozialist der wirklichen Zukunft könnte , erfüllt von Menschenliebe , mit derselben In-
nigkeit , mit der ein Mystiker von der Vereinigung mit der Gottheit träumte , die liebevollste
Vereinigung der Menschen untereinander träumen und so viel davon zu verwirklichen trach-
ten , als ihm und anderen liebevollen Menschen möglich ist. ( Neurath 1925 , 98 )
Es gehe jedoch nicht wie in der bürgerlichen Gesellschaft um individuelles Handeln , son-
dern um ein Mitwirken am „Glück der Gesamtheit“:
Menschenliebe offenbart sich nicht mehr im Almosengeben , sondern in der Schaffung ge-
sellschaftlicher Einrichtungen. ( Neurath 1925 , 106 )
Neurath schließt die Schrift in einem unerwartet pathetischen Ton :
Die voll entfaltete Liebe wird zum Abbild sozialistischer Gemeinschaft und der liebevol-
le und begeisterte Mensch , der im Mittelalter als mystischer Gottsucher die Überwindung
der Einzelpersönlichkeit ersehnte , kann nun ein irdisches Wesen , nämlich die bewußt ge-
staltete sozialistische Lebensordnung als etwas umfangen , das solcher Ergriffenheit wert
ist , – denn der Sozialismus als Idee ist die Lebensordnung der liebevollen Gemeinschaft.
( Neurath 1925 , 114 )
Felix Weil verfasste für Grünbergs Archiv , den Vorgänger der Zeitschrift für Sozialfor-
schung , eine Rezension , in der er das Werk grundsätzlich lobt , doch jene Passagen ablehnt ,
in denen Neurath auf moralische Grundlagen zu sprechen kommt :
War es auch notwendig , lange philosophistelnde Abhandlungen über Glücksgefühl im So-
zialismus zu schreiben , die für den Sozialisten eine unerträgliche Banalität , für den Gegner
des Sozialismus aber abstrakte lyrische Deklamationen , durch nichts belegbare Prophezei-
ungen darstellen ? Glaubt N. auf so primitive chiliastische Weise ( „das Dorf der liebevollen
Gemeinschaft“ … ) dem Sozialismus neue Anhänger zu werben ? ( Weil 1926 , 457 )
Neuraths Stärke liegt sicherlich nicht in der eingehenden Erläuterung seiner moralischen
Grundlagen , die zugleich die Grundlagen seiner ökonomischen Beiträge sind. Die Refle-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441