Page - 86 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 86 -
Text of the Page - 86 -
4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
86 Wehrpflicht. ( Stadler 1982a , 128 ) Popper-Lynkeus verfasste zudem eine ethische Schrift ,
die er gegen den Vorwurf , zu naiv zu sein , vehement verteidigte.108 In der Programmschrift
des Wiener Kreises heißt es über ihn :
Neben seinen physikalisch-technischen Leistungen seien hier seine großzügigen , wenn auch
unsystematischen philosophischen Betrachtungen erwähnt ( 1899 ),109 sowie sein rationalisti-
scher Wirtschaftsplan ( allgemeine Nährpflicht , 1878 ). Er diente bewußt dem Geist der Auf-
klärung , wie auch durch sein Buch über Voltaire bezeugt wird. Die Ablehnung der Metaphy-
sik war ihm mit manchen anderen Wiener Soziologen , zum Beispiel mit Rudolf Goldscheid ,
gemeinsam. ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 8 ])
Im Wiener Rathauspark findet sich die Büste Popper-Lynkeus’ neben jener Machs.
4.4 Wiener Spätaufklärung und weltliche Ethik
In der Wiener Spätaufklärung , die sich in ihrer bürgerlichen Ausrichtung sowohl zur
sozialistischen Bewegung als auch zum christlich-sozialen Lager in Distanz hielt ( Ue-
bel 2000 , 294 ), lag ein klarer Schwerpunkt auf der Bildungsfrage. So hielt beispielsweise
Jodl die Demokratie des Geistes für die notwendige Kehrseite des demokratischen Staa-
tes und hielt deshalb die Sorge um gute und billige Bücher für ebenso wichtig wie jene
um Wohnung und Nahrungsmittel. ( Jodl 1906 [ 1917 , 523 ]) Nicht nur Jodl bezog sich ( wie
später Schlick ) in seinen Ausführungen zur Bildungsfrage gerne auf Schiller. Der Bezug
auf Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ fand sich in vielen
Schriften der Wiener Aufklärung , wie Uebel anmerkt. In Bildungsfragen „stritt sich das
progressive Bürgertum mit Intellektuellen der Arbeiterbewegung um die Erbschaft des
deutschen Idealismus“ ( Uebel 2000 , 296 f. ).110 Dabei ging es nicht nur um Fachbildung ,
sondern Bildung wurde als Bildung zu selbstständigen Persönlichkeiten verstanden und
in enger Verbindung zur Moral gesehen. Uebel ortet hier jedoch ein Problem :
Also Selbstbestimmung auf der einen , überpersönliche Normen auf der anderen Seite : liegt
hier keine Spannung vor ? Weshalb wird die sittliche Veredelung der Menschheit zu einem
scheinbar als verbindlich erachteten Ziel , entspringt dieses Ideal doch scheinbar nur urei-
genster Selbstbestimmung ? ( Uebel 2000 , 299 )
108 Heinrich Löwy beabsichtigte zudem , aus Popper-Lynkeus’ Nachlass eine Schrift zur Erkenntnisthe-
orie zu veröffentlichen. ( Siehe hierzu Stadler 1982a , 128 f. )
109 Gemeint ist sein 1899 unter dem Pseudonym Lynkeus ( gr. der Türmer ) erschienenes Werk Phantasi-
en eines Realisten , das wegen „verderblichen Inhalts“ konfisziert wurde und bis 1922 verboten war.
110 Wie im Wiener Kreis wurde nicht die klassische deutsche Philosophie zur Gänze abgelehnt.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441