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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
138 schließlich auf logische Analyse eingeschränkt wird. ( Carnap 1935 , 35 ) Im Jahre 1936 emi-
griert Carnap in die USA. Die Arbeiten der folgenden Jahrzehnte , die dort entstehen ,
sind denn auch vor allem der Semantik und der induktiven Logik gewidmet.189 Ausführ-
lich auf Wertsätze wird Carnap erst wieder in seiner Erwiderung auf den Beitrag Kaplans
im Schilpp-Band eingehen.
In diesen Werken , die trotz des Umstandes , dass Carnap seit 1931 in Prag tätig war , der
Wiener-Kreis-Periode zuzurechnen sind , entspricht Carnaps Ethik weitgehend der Stan-
dardauffassung logisch-empiristischer Ethik. Wobei hervorzuheben ist , dass sich Carnap
nirgends dahingehend äußert , es handle sich bei Wert- und Normsätzen nur um den Aus-
druck momentaner Launen. 1935 spricht er ausdrücklich von permanenten Haltungen.
5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher
Humanismus
Mit den Änderungen in Carnaps Ansichten bezüglich des
theoretischen Status moralischer Sätze von einem Kogni-
tivismus zu einem Nonkognitivismus ging keine Änderung
seiner moralischen Überzeugungen einher. Zu Carnaps
mo ralischer Haltung bemerkt Patzig :
Carnap war wie viele seiner Generation , und alle Mitglieder
des „Wiener Kreises“ um Moritz Schlick , davon überzeugt
eine Besserung der Bedingungen , unter denen Menschen le-
ben und zusammenleben , sei nur in dem Maße zu erwarten ,
in dem unser begründetes Wissen über den Menschen , die
Natur und die Gesellschaft zunimmt. ( Patzig 1966 , 96 )
Der Philosophie fiel dabei die Aufgabe zu , den Fortschritt der Wissenschaften zu fördern ,
indem sie deren Grundlagen klärt und solche Ansichten , die dem Kenntnisstand der Wis-
senschaften nicht mehr entsprachen , zurückweist. ( Patzig 1966 , 96 ) Die Wissenschaft gilt
nach dieser Ansicht als wertvolles Mittel zur Verbesserung menschlicher Lebensbedin-
gungen , und damit indirekt auch die wissenschaftliche Philosophie :190
189 Ray Lepley diskutiert in Lepley ( 1944 , 137–138 ) Bemerkungen über Moral und Ethik aus einem Brief
Carnaps an ihn.
190 Zudem galt Carnap die Wissenschaft selbst als moralisch hochstehend : “The young Carnap’s enthu-
siasm for , and faith in , the scientific had a strong ethical motive : in it he saw a guarantee of serious-
ness , genuineness , and integrity in human thought and affairs.” ( Naess 1968 , 4 ) In einem Brief an
Russell ( vor 1928 ) meint Carnap darüber hinaus , es sei sicherlich kein Zufall , dass jene Philosophen ,
die mit der Sorgfalt von Logik und Naturwissenschaften vertraut seien , auch jene seien , die gegen
Krieg und Unterdrückung auftreten würden. ( Carus 2007a , 4 , Fn. 5 , ohne genauere Quellenangaben )
Genauer wird der Zusammenhang dort nicht erläutert. Es wird jedoch suggeriert , dass , wer mora-
Abb. 2 : Rudolf Carnap 1935
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441