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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Alles , von dem man überhaupt sprechen kann , muß sich auf von mir Erlebtes zurückführen
lassen. Alle Erkenntnis , die ich haben kann , bezieht sich entweder auf meine eigenen Ge-
fühle , Vorstellungen , Gedanken usw. , oder sie ist aus meinen Wahrnehmungen zu erschlie-
ßen. ( Carnap 1929a [ 2004 , 58 ])
Ein Satz über die Existenz Gottes kann sinnvoll sein , wenn „Gott“ so definiert wird , dass
in ihm nur wahrnehmbare Kennzeichen genannt werden. ( Carnap 1929a [ 2004 , 60 ]) Eine
wissenschaftliche Philosophie schließe deshalb den Gottesbegriff nicht von vornherein
aus. Sie verlangt jedoch die Zurückführung auf Beobachtbares , und Fragen in Bezug auf
Gott könnten dann von den Erfahrungswissenschaften behandelt werden. ( Carnap 1929a
[ 2004 , 62 ]) So sah Carnap die Anforderungen wohl auch für Wertbegriffe und hielt eine
solche Zurückführung für diese zu dieser Zeit auch noch für möglich.
5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b )
Auch in seinem Vortrag „Wissenschaft und Leben“, den Carnap im Oktober 1929 am Bau-
haus in Dessau hielt , setzte er sich mit Werten philosophisch konstruktiv auseinander.172
Bevor ich auf diesen Vortrag eingehe , sind einleitend ausführlichere Bemerkungen zu den
persönlichen und inhaltlichen Beziehungen Carnaps zum Bauhaus angebracht.
Zur Affinität zwischen Carnap ( bzw. dem Wiener Kreis ), dem Bauhaus und der Neuen
Sachlichkeit liegen mehrere Studien vor , die die verbindenden modernistischen Merkma-
le hervorheben.173 Um eine zu eindimensionale Sicht dieser Verbindung zu vermeiden , sei
hier jedoch auch an die Vorgeschichte der Kontakte Carnaps zum Bauhaus erinnert , die
172 Carnap hielt zwischen 15. und 19. Oktober fünf Vorträge : „Wissenschaft und Leben“ ( 15. ), „Aufga-
be und Gehalt der Wissenschaft“ ( 16. ), „Der logische Aufbau der Welt“ ( 17. ), „Die vierdimensio-
nale Welt der modernen Physik“ ( 18. ) und „Der Mißbrauch der Sprache“ ( 19. ). Am 27. Mai hatte
Neurath bereits „Bildstatistik und Gegenwart“ vorgetragen und vom 3.–8. Juli der noch junge Feigl :
„Die wissenschaftliche Weltauffassung“ ( 3. ), „Physikalische Theorien und Wirklichkeit“, „Naturge-
setz und Willensfreiheit“ ( 5. ), „Zufall und Gesetz“ ( 6. ), „Leib und Seele“ ( 7. ), „Raum und Zeit“ ( 8. ).
Nach Carnap sprach Neurath noch einmal am 9. Juni 1930 am Bauhaus über Geschichte und Wirt-
schaft. Ebenso war Walter Dubislav am 26. November 1929 zu einem Vortrag „Hauptthesen des kan-
tischen Kritizismus“ eingeladen. Neurath hatte Hannes Meyer im Zuge der Neugründung des Öster-
reichischen Werkbundes 1928 nach Wien eingeladen. Neuraths erster Vortrag war die Gegeneinladung
nach Dessau gewesen. Mit der Übernahme der Bauhaus-Leitung durch Mies van der Rohe ende-
te die Zusammenarbeit. Dieser hielt sich mehr an den Psychologen Felix Krüger , den Soziologen
Hans Freyer und den Philosophen Helmuth Plessner , die dem Modernismus kritischer gegenüber-
standen. Carnap und Neurath kooperierten weiterhin bei den internationalen Kongressen moder-
ner Architektur ( CIAM ) und dem Österreichischen Werkbund. Höhepunkt der Zusammenarbeit war
die Werkbundsiedlung. Carnap stand jedoch später mit dem New Bauhaus in den USA wieder eng
in Kontakt. ( Dahms 2004 , 365 ff. ) Zu Werkbund und Bauhaus siehe auch Hepp ( 1987 , 159 ff. ).
173 Zum Verhältnis von Wiener Kreis und Bauhaus siehe u. a. Galison 1990 , Dahms 2004 und Potoch-
nik / Yap 2006.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441