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12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus
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12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus
Inhaltlich stimmen die Mitglieder des Wiener Kreises in ihrer moralischen Grundausrich-
tung überein. Sie vertreten alle , was Carnap 1963 ( Carnap 1963a [ 1993 , 130 ]), aber Feigl be-
reits 1949 ( Feigl 1949 [ 1981 , 368 ]), „wissen schaftlichen Humanismus“ nannte. Diese Haltung
umfasst vier Prinzipien , von denen das erste die normative Ausrichtung dieser morali-
schen Haltung betrifft. Es lautet in der von mir im Carnap-Kapitel ( siehe 5. 3. 7 ) gewähl-
ten Formulierung , die wie bei den folgenden Carnap ( 1963a [ 1993 , 130 f. ]) möglichst wort-
getreu folgt : „Oberstes Ziel ist das Wohlbefinden und die individuelle Entfaltung aller
Menschen.“ Die weiteren Prinzipien legen dar , wessen Aufgabe die Verwirklichung dieses
Zieles ist , auf welche Fähigkeiten hierzu gesetzt werden kann und welche Rolle der Wis-
senschaft dabei zukommt. Das zweite Prinzip besagt : „Alles , was zur Verbesserung des Le-
bens auf dieses Ziel hin getan werden kann , ist nur Aufgabe der Menschen.“ In diesem
Prinzip wird verdeutlicht , dass in der Verwirklichung der moralischen Zielsetzung weder
auf übernatürliche Kräfte zu zählen sei noch solche als Hindernis zu erachten seien. Das
dritte Prinzip schreibt diese Aufgabe nicht wie das zweite Prinzip nur den Menschen zu ,
sondern bringt die Überzeugung zum Ausdruck , dass die Menschen diese Aufgabe auch
zu erfüllen vermögen : „Die Menschheit ist fähig , ihre Lebensbedingungen so umzugestal-
ten , dass viele der gegenwärtigen Leiden vermieden und die äußere und innere Lebenssitu-
ation für den Einzelnen , die Gemeinschaft und schließlich für die ganze Menschheit we-
sentlich verbessert werden können.“ Der wissenschaftliche Humanismus erachtet nun die
Wissenschaft beim Verfolgen dieses Ziels als entscheidende Kraft : „Jede überlegte Hand-
lung setzt Welterkenntnis voraus. Die Wissenschaft ist die beste Methode zur Erkennt-
nisgewinnung und die Wissenschaft deshalb eines der wertvollsten Instrumente zur Ver-
besserung des Lebens.“ So ist im vierten Prinzip zu lesen. In Neuraths Konzeption können
Verbesserungen nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen herbeigeführt werden.
In seiner marxis
tischen Periode nennt Neurath diese Konzeption einen Sozialepikureismus.
Diese moralische Ausrichtung findet sich auch in der Programmschrift Wissenschaft-
liche Weltauffassung. Der Wiener Kreis von 1929 und ist Teil der weiteren Bedeutung des
Ausdrucks „wissenschaftliche Weltauffassung“ ( siehe 7. 3. 3 ). Zumindest in der Wiener
Zeit verwenden die Mitglieder des Wiener Kreises „wissenschaftliche Weltauffassung“
( unbeabsichtigt ) in dieser weiteren Bedeutung. Nicht umsonst wird in der Programm-
schrift der Eudämonismus als einflussreiche philosophiegeschichtliche Linie ausgewiesen
( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 9 ]) und schon zuvor im Zusammenhang mit dem
Liberalismus der Utilitarismus genannt ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 6 ]). Ne-
ben antimetaphysischer Tatsachenforschung geht es in der Programmschrift wiederholt
um Diesseitigkeit und Lebensverbundenheit. ( Stadler 1985 , 117 ) Weil die Wissenschaften
für das moralische Unternehmen und die Logik wiederum für die Wissenschaften als so
wichtig angesehen werden , bedeuten selbst Carnaps logische Arbeiten keinen Rückzug
aus dem praktischen Engagement , sondern eine Form , sich einzubringen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441