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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
290 9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-
Periode
1922 verlegte Schlick seinen beruflichen und privaten Lebensmittelpunkt nach einem kur-
zen Intermezzo in Kiel nach Wien , wo er bis zu seiner Ermordung 1936 , abgesehen von
kurzen Auslandsaufenthalten , bleiben wird. Schlick ĂĽbernahm dort nicht , wie bis vor kur-
zem angenommen , den Lehrstuhl Machs ( ab 1903 in Betreuung von Boltzmann ), sondern
streng genommen jenen Jodls , der diesen bis zu seinem Tod 1914 inne hatte. ( Friedl / Rut-
te 2008a , 14 )385 Zwar sah sich Schlick mit seiner Nähe zur Naturwissenschaft zweifellos in
der Nachfolge Machs und Boltzmanns , doch nicht ausschlieĂźlich. Er wird zudem Jodls
Erbe antreten , der den Boden für Moral und Ethik in der Tradition der Aufklärung in
Wien – nicht zuletzt an der Universität – gut aufbereitet hatte und dessen Geschichte der
Ethik , wie wir durch eine Anmerkung Ivens zu den Fragen wissen , Schlick frĂĽh herange-
zogen hatte ( Schlick 2006 , 420 , Fn. 5 ).
In seiner Wiener Zeit veröffentlicht Schlick wiederum ethische Schriften. Jedoch nicht
die beiden oben genannten , welche er anscheinend nicht zu seiner Zufriedenheit ausarbei-
ten konnte. Neben der kleinen Schrift Vom Sinn des Lebens steht hier sein ethisches Haupt-
werk Fragen der Ethik im Zentrum. Dem postum zusammengestellten und veröffentlich-
ten Werk Natur und Kultur werde ich mich abschlieĂźend zuwenden.
9.3.1 Vom Sinn des Lebens ( 1927a ): Schlicks Menschenbild und Lebenseinstellung
In dem Beitrag Vom Sinn des Leben ( im Folgenden : Vom Sinn ) geht Schlick ähnlich der
Lebensweisheit davon aus , ein Sinn des Lebens könne nur gefunden werden , wenn er nicht
unter dem Gesichtspunkt des Zweckes gesehen werde. Der Sinn des Lebens kann nach
SchlickÂ
– in klarer Abgrenzung zu Wittgenstein ( Wittgenstein 1922 , 6.41 bis 6. 421 ) nur im
Leben selbst , d. h. in der jeweiligen Gegenwart des Lebens , gesucht und gefunden werden.
Der Beitrag erschien 1927 als Aufsatz in Symposion und gleichzeitig als Sonderdruck die-
ser Zeitschrift.386 Entstanden war er im Wesentlichen jedoch bereits 1921 , als Schlick einen
gleichlautenden öffentlichen Vortrag auf Einladung der Berliner Ortsgruppe des Deut-
schen Monistenbundes hielt. ( Iven 2008b , 93 )387 In Vom Sinn kommt Schlicks Menschen-
bild , das kaum einem Wandel unterlag , am besten zum Ausdruck.
385 In einem Dokument des Bundesministeriums fĂĽr Inneres und Unterricht vom 14. August 1922 wird
Schlick ausdrücklich als Nachfolger Jodls bezeichnet. ( Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 85 , C. 29–4 )
386 Symposion war zunächst ein Publikationsorgan der Philosophischen Akademie zu Erlangen. Diese be-
stand zwischen 1922 und 1925. Zu den Mitgliedern zählten 1925 : Cassirer , Dewey , von Ehrenfels ,
Hartmann , Heidegger , Ortega y Gasset , Russell und Scheler. Die Akademie hatte das Ziel , der Zer-
splitterung in der Philosophie entgegenzuwirken. ( Iven 2008b , 93 f. , Fn. 13 )
387 Als Vorläufer des Aufsatzes kann bereits der Vortrag „Warum sollen wir Feste feiern ?“ ( Nachlass
Schlick , Inv.-Nr. 18 , A. 72a ) gelten. Weiteres zur Entstehungsgeschichte siehe den editorischen Be-
richt zum Wiederabdruck des Aufsatzes in MSGA I , 3 (= Iven 2008b ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441