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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
76 4.3.3 Die Ethische Bewegung
Einige Mitglieder des Wiener Kreises , allen voran Schlick , aber auch Carnap und Kraft ,
engagierten sich im Rahmen der Ethischen Gemeinde , die sich in der Tradition der ethi-
schen Kulturbewegung und der ethischen Gesellschaften um eine moralische Erneue-
rung der Gesellschaft bemühte und dabei in der Zwischenkriegszeit nicht so unpolitisch
war , wie vielfach angenommen ( siehe Kato-Mailáth-Pokorny 2010 ). Schlick gehörte seit
1926 dem Ausschuss der Ethischen Gemeinde an und referierte dort zum Beispiel 1928 über
„Ethik der Pflicht und Ethik der Güte“.86 Börner , der Leiter der Gemeinde nach Jodls
Tod 1914 , sollte Schlick 1936 in einem Brief an die Witwe vor allem als würdigen Nach-
folger Jodls und für seine ( bzw. beider ) „Harmonie zwischen ethischer Theorie und ethi-
scher Praxis“ würdigen. ( Börner an Blanche Schlick , 24. Juni 1936 , Nachlass Schlick , Inv.-
Nr. 127 / #Boe–1 ) Zu den Mitgliedern und Förderern zählten zudem ( ab 1927 ) Carnap87
und später Kraft88. ( Stadler 1982a , 164 )
Die Ethische Gemeinde war Teil der Ethischen Bewegung , die 1876 in den Vereinigten
Staaten entstanden war. Im Laufe der 1890er-Jahre wurde eine Reihe von Gesellschaften
vor allem in den USA , Großbritannien ,89 Deutschland90 und Österreich gegründet. Ini-
tiator und einflussreiches Gründungsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Ethische
Kultur , die 1895 in Wien gegründet wurde und vor allem von Männern und Frauen des
liberalen Bürgertums getragen wurde , war Jodl.91 Zu den Gründungsmitgliedern zählen
86 Eine Einladung zum Vortrag am 31. Jänner 1928 befindet sich im Schlick-Nachlass unter Inv.-Nr. 86 ,
C. 30–4.
87 Laut Mitteilungen der Ethischen Gemeinde 11 , Mai 1927 , 125 ( Mitgliederstand ).
88 „Ihrem Wunsche gemäß erlaube ich mir , Ihnen beiliegend einen Erlagschein der Ethischen Gemein-
de zu senden [ … ].“ ( W. Eckstein an Kraft , 6. März 1929 ; Nachlass Victor Kraft ; zit. n. Stadler 1982a ,
265 )
89 In England war Henry Sidgwick führend beteiligt ( vgl. Sidgwicks Practical Ethics. A Collection of
Addresses and Essays aus dem Jahre 1898 ).
90 In Deutschland war neben Jodl Georg von Gižycki treibende Kraft. Auch Tönnies , früher Mentor
Neuraths , war in der Bewegung aktiv. Jodl trug die immer stärkere sozialistische Ausrichtung der Deut-
schen Gesellschaft für Ethische Kultur jedoch nicht mit und hatte vor allem mit Gižyckis Ehefrau , der
Frauenrechtsaktivistin und Sozialistin Lily Braun , Meinungsverschieden heiten. Lily Braun ( noch un-
ter dem Namen v. Gižycki ) war in Deutschland Mitherausgeberin der Zeitschrift Ethische Kultur und
engagierte sich in der Ethischen Gesellschaft , in der sie u. a. Vorträge über das Frauenwahlrecht hielt.
Nach einer Begegnung mit Friedrich Engels trat sie in die SPD ein. Nach dem Tod ihres Mannes 1895
und der Heirat 1896 mit Heinrich Braun widmete sie sich ausschließlich der sozialdemokratischen
Frauenbewegung. Die Führerin der sozialdemokratischen Frauenbewegung , Clara Zetkin , hielt ihre
Ansichten jedoch nicht für radikal genug. 1901 veröffentlichte Braun die wissenschaftliche Monogra-
fie Die Frauenfrage , ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite und zog sich in der Fol-
gezeit von der Parteiarbeit zurück. ( http://www.zeno.org/Literatur/M/Braun ,+Lily / Biographie )
91 Monistenbund und Ethische Gemeinde wurden von Freimaurer-Logen gegründet. ( Stadler 1997a , 211 )
Da Jodl sowohl der Volksbildungsbewegung , dem Monistenbund als auch der Ethischen Gesellschaft an-
gehörte , sieht Uebel in ihm die zentrale Figur dieses Netzwerkes. ( Uebel 2000 , 293 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441