Page - 327 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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9.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
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den zu verdanken sind , muss offen bleiben. Neu ist eine BeschÀftigung Schlicks mit die-
sen Fragen zu jener Zeit hingegen keinesfalls.
9.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Wie die Untersuchung von Schlicks ethischen Schriften klar gezeigt hat , gibt es zwischen
seiner Lebensweisheit aus dem Jahre 1908 und Natur und Kultur , dem Manuskripte aus den
letzten Lebensjahren zugrunde liegen , mehr KontinuitÀten als DiskontinuitÀten. Selbst
die Fragen halten seinen logisch-empiristischen Anspruch nicht durch. Sie sind in Teilen
klar normativ. Ob und inwiefern Schlick sein optimistisches Menschenbild , das nicht zu-
letzt seine ethischen AusfĂŒhrungen bestimmte , angesichts der sich anbahnenden Katas-
trophe geÀndert hÀtte , lÀsst sich nicht mit Bestimmtheit sagen.441 Schlick wurde 1936 von
einem ehemaligen SchĂŒler auf der Philosophenstiege des HauptgebĂ€udes der UniversitĂ€t
Wien auf dem Weg zu einer Vorlesung durch mehrere SchĂŒsse ermordet.
Der Tenor der meisten Kommentare lautete , Schlick habe sich sein Schicksal selbst zuzu-
schreiben , weil er die Jugend durch seinen unchristlichen Materialismus in den ethischen Ni-
hilismus gestĂŒrzt habe. ( Mormann 2000 , 29 )
Sein Mord wurde schnell politisch instrumentalisiert. Am bekanntesten ist ein Artikel des
Dozenten Johannes Sauter , der unter dem Pseudonym Prof. Dr. Austriacus in der katho-
lischen Wochenschrift Schönere Zukunft Schlick als geistigen Juden darstellt :
Denn der Jude ist der geborene Ametaphysiker , er liebt in der Philosophie den Logizismus ,
den Mathematizismus , den Formalismus und Positivismus , also lauter Eigenschaften , die
Schlick in höchstem MaĂe in sich vereinigte. Wir möchten aber doch daran erinnern , daĂ
wir Christen in einem christlich-deutschen Staate leben , und daĂ wir zu bestimmen haben ,
welche Philosophie gut und passend ist. ( Prof. Dr. Austriacus 1936 , zit. n. Stadler 1997a , 929 )
Um die tatsÀchlichen Tatmotive ging es damals und geht es bis heute selbst in der phi-
losophischen SekundÀrliteratur seltener. Es wurde nie geklÀrt , ob das LiebesverhÀltnis zu
Schlicks Studentin Sylvia Borowicka , das beim Mörder nach eigenen Angaben Eifersucht
auslöste , tatsÀchlich bestand. Hatte der Mörder , der aus Àrmlichen VerhÀltnissen stammte ,
begrĂŒndete Ăngste um sein akademisches Fortkommen , das er von Schlick vereitelt sah ?442
441 Feigl hatte persönlich den Eindruck , Schlicks Menschenbild sei im Schatten der politischen VerÀn-
derungen weniger optimistisch geworden. ( Blumberg / Feigl 1974 , xv )
442 Der TĂ€ter fĂŒhrte die Ablehnung seiner Bewerbung um eine Stelle bei den Volkshochschulen auf eine
Intervention Schlicks zurĂŒck.
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische KlÀrungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 âWissenschaft und Lebenâ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 âĂberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Spracheâ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 âTheoretische Fragen und praktische Entscheidungenâ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 SpÀtphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle fĂŒr ein vertrĂ€gliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers EthikverstÀndnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer LebensgrundsÀtze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : EudÀmonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂŒndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage natĂŒrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂŒndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 MoralbegrĂŒndung auf der Grundlage primĂ€rer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂŒndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂŒrgerinnen oder BĂŒrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂŒnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂŒrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441