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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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kommunistischer Untriebe beschuldigt worden waren. ( Siehe u. a. Mormann 2000 , 36 )
Carnap setzte darüber ein Protokoll auf , das postum im Journal of Philosophy ( Nummer
24 vom 24. Dezember 1970 ) erschien. Carnaps lebenslanges politisch-soziales Engage-
ment ist heute , unter anderem dank der Untersuchungen von Hans-Joachim Dahms ,
kein Geheimnis mehr.
5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis
Carnap behauptet also in seiner Wiener-Kreis-Periode : ( 1 ) Moralische Sätze drückten
nur eine gefühls- oder willensmäßige individuelle Haltung aus. Es handle sich um prak-
tische , nicht theoretische Sätze. ( 2 ) Praktische Sätze , die irrtümlich als theoretische Sätze
auftreten , seien metaphysische Sätze. ( 3 ) Ausdrucksmittel ohne jeglichen Gegenstands-
bezug seien für den Ausdruck dieser Haltungen am besten geeignet. ( 4 ) Moralische Sät-
ze könnten in keinem Begründungsverhältnis zueinander stehen.
Radikal „ungegenständlich“ werden moralische Sätze erst in Behauptung ( 3 ). Es gibt
keinen Inhalt mehr , über den man sich verständigen könnte. Für keinerlei Wert- bzw.
Normsätze kann noch argumentiert werden , für „Rationalität“ ist kein Platz mehr. Sie las-
sen sich nur noch aktiv durch Entscheidung oder passiv über Manipulation übernehmen :
Die „Werte“ werden dem irrationalen „Leben“ zugeordnet. Sie fallen aus der Sphäre der Ver-
nunft heraus und werden als biologisch oder psychologisch determinierte Impulse oder Trie-
be aufgefaßt , gegen die man nicht mehr argumentieren , sondern die man nur noch therapeu-
tisch oder erzieherisch beeinflussen konnte. ( Mormann 2006 , 185 )
Verschiedene Wert- oder Normsätze werden in dieser Phase nicht unterschieden. In ei-
nem kleinen Vorgriff sei angemerkt , dass Carnap später zwischen Grundwerten und ab-
geleiteten , relativen Werten unterscheiden wird :
In den Diskussionen im Wiener Kreis ging es häufig um die Klärung der logischen Natur von
Werturteilen. Wir unterschieden zwischen absoluten und unbedingten Werturteilen , etwa
solchen , die besagen , eine bestimmte Handlung sei in sich selbst moralisch gut ; und relati-
ven oder bedingten Werturteilen , zum Beispiel , wenn eine Handlung in dem Sinne gut ge-
heißen wird , als sie dazu beiträgt , bestimmte Ziele zu erreichen. Behauptungen wie die letz-
te sind offensichtlich empirisch , auch wenn sie Wertbegriffe wie „gut“ enthalten. Dagegen
sind absolute Werturteile , die nur davon sprechen , was getan werden soll , dem empiristischen
Sinnkriterium nach ohne kognitive Bedeutung. Gewiß haben sie nicht-kognitive Bedeu-
tungskomponenten , gefühlsmäßige oder handlungsbestimmende , und ihre Wirkung in der
Erziehung , bei sittlichen Ermahnungen , politischen Appellen und so weiter gründet sich auf
dieser Komponente. Da sie aber nicht-kognitiv sind , können sie nicht als Aussagen verstan-
den werden. Daß sie häufig nicht in der ihnen entsprechenden Form von Befehlen wie „Lie-
be deinen Nächsten“ ausgedrückt werden , sondern in der grammatischen Form von Erklä-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441