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7. Otto Neurath : Moral
214 xion darauf ist hier und anderswo dürftig. Wenn wir eine solche Reflexion zur Ethik zäh-
len , ist seine Ethik in dieser Hinsicht oberflächlich und wenig differenziert. Dennoch wird
sie klar als Grundlage ausgewiesen und nicht versteckt oder gar ignoriert.
7.3.2 Sozialepikureismus : Lebensgestaltung und Klassenkampf (1928 )
Ebenso äußert sich Neurath in Lebensgestaltung und Klassenkampf zu seiner moralischen
Basis und damit u. a. zu der seiner ökonomischen Arbeiten. Rutte bemerkt zu Recht , Le-
bensgestaltung und Klassenkampf aus dem Jahre 1928 sei vor der linguistischen „Wende der
Philosophie“ verfasst worden.288 Er beschreibt es zudem mit gutem Grund als ein „durch-
aus parteilich sein wollendes , politisches Kampf-Buch , das in den kulturellen , erzieheri-
schen und lebensreformatorischen Bestrebungen der Sozialdemokratie seine geistige Hei-
mat hat“ ( Rutte 1986 , 163 ). In diesem Buch wird jedoch auch die moralische Einbettung
von Neuraths vielfältigen Aktivitäten ausgeführt. Es vermittelt Neuraths Vorstellung von
einer zukĂĽnftigen friedlichen Menschheitsgemeinschaft , von der in der Arbeiterbewegung
etwas vorweggenommen werde. ( Neurath 1928 [ 1981a , 228 ])
Im Kapitel „Marx und Epikur“Â
– in der Schrift nur noch gefolgt vom Kapitel „Abkehr
von der Metaphysik“Â
– zeigt Neurath auf , wie stark Marx von Epikur beeinflusst gewesen
sei. Er hebt Epikur als einen von den Gelehrten und Vertreterinnen bzw. Vertretern der
Lebenskunst hervor , „die fern von allzu spitzfindigen Betrachtungen auf einfache , ja gro-
be Art der Welt um des Lebens willen zu Leibe gingen“ ( Neurath 1928 [ 1981a , 282 ]) und
mit dem eine Reihe untheologischer Denkerinnen und Denker beginne. Diese seien die
Vertreter und Vertreterinnen des „philosophischen Materialismus“:
Die Beschäftigung mit Epikur und Denkern verwandter Richtung berührt den suchenden
Proletarier von vornherein angenehm , eine saubere , wirklichkeitsgeschwängerte Luft umgibt
ihn , alles ist auf Mensch und GlĂĽck abgestellt. Es mĂĽssen nicht erst theologisierende Betrach-
tungen beiseite geschoben werden , keine Erwägungen über den Weltgeist und seine Zie-
le , keine Betrachtungen über göttliche Gebote oder über innere Sicherheit des Tuns , [ … ].
( Neurath 1928 [ 1981a , 282 ])
288 Sie stehe damit , so Rutte weiter , noch außerhalb „der eigentlichen Philosophie der logischen Ana-
lyse , die den Wiener Kreis charakterisiert“ ( Rutte 1986 , 163 ). Diese Festlegung der Philosophie des
Wiener Kreises auf logische Analyse muss man jedoch nicht teilen und wurde gerade von Neurath
nicht uneingeschränkt geteilt. Besonders kritisch war er gegenüber Formalisierungen : „Aber die
Formalisierung ist kein Zaubersieb , das fĂĽr Empirismus garantiert ; man kann mit Hilfe von Sym-
bolen auch sehr spekulative Geschichten erzählen. Manchmal kann ein Symbolismus die Mehrdeu-
tigkeit bestimmter Erklärungen sogar verdecken und die Wachsamkeit von Wissenschaftlern ein-
schläfern , die es gewohnt sind , sich auf symbolische Argumentation zu verlassen.“ ( Neurath 1941a
[ 1981b , 902 ]) Wir sollten im Ausdruck vorsichtig , aber nicht pedantisch sein. ( Neurath 1941b [ 1981b ,
924 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441