Page - 47 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 47 -
Text of the Page - 47 -
2.3 Metaethik
47
Sämtliche dieser Positionen können dahingehend spezifiziert werden , dass die Thesen
nicht für alle moralischen Sätze gelten , sondern nur für bestimmte Arten , z. B. kann der
Expressivismus auf Definitionen beschränkt werden , der diese sodann als Festlegungen
und nicht als Feststellungen auffasst.
2.3.3 Ontologische Positionen
Wer eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt , kann bei moralischen Sätzen nur
dann im ĂĽblichen Sinne von wahr oder falsch sprechen , wenn er bzw. sie eine moralische
Realität annimmt , mit der der im Satz ausgedrückte Sachverhalt übereinstimmt. Er / sie
muss also von der Existenz moralischer Eigenschaften und Tatsachen ausgehen und da-
mit einen Realismus vertreten :
These des moralischen Realismus : Es gibt moralische Eigenschaften und Tatsachen.
Bevor ich zu einigen Varianten des Realismus komme , der lange Zeit als obsolet galt , aber
seit den 1970er-Jahren zunehmend an Popularität gewinnt , sei hier mit Birnbacher , dem ich
in der weiteren Terminologie im Groben folge , schon eines klargestellt : Es muss sich beim
Realismus nicht um einen substanziellen Realismus handeln. Moralische Tatsachen kön-
nen wie Naturgesetze ohne die Existenz von Gegenständen existieren. Ein Wertrealist muss
deshalb Werte nicht substanzialisieren , wie dies Nicolai Hartmann in seiner umstrittenen
Werttheorie getan hat ( Hartmann 1925 ). Werte können auch nur als „Geltungen“ existieren
( wie Natur- und mathematische Gesetze ) oder als unselbstständige Entitäten , also Eigen-
schaften , die substanzielle Entitäten als Träger voraussetzen. ( Birnbacher 2003 , 387 )
Die Variante des starken moralischen Realismus vertritt folgende These : Es gibt mora-
lische Eigenschaften und Tatsachen , die von den Einstellungen der sich Ă„uĂźernden un-
abhängig sind.
Ein naturalistisches Modell einer moralischen Realität ist beispielsweise ein Modell ,
das moralische Tatsachen als empirische Tatsachen auffasst ( Naturgesetze , Evolution , an-
thropologische Gegebenheiten , der consensus gentium ). Auch bei einem Modell , das mo-
ralische Tatsachen als metaphysische Tatsachen auffasst – wie etwa den Willen Gottes – ,
handelt es sich um ein naturalistisches Modell.41 Der Naturalismus schien lange Zeit
durch G. E. Moores ( Moore 1903 ) Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses erledigt zu
sein. Die moralische Realität kann jedoch auch als nicht-naturalistische Tatsache aufge-
fasst werden , als Tatsache sui generis ( Naturrecht , Sittengesetz , Wertgesetzlichkeit ). ( Sie-
he Birnbacher 2003 , 358 ff. )
Vom metaethischen Realismus distanziert sich der metaethische Nonrealismus :
These des moralischen Nonrealismus : Es gibt keine moralischen Eigenschaften oder Tat-
sachen.
41 Diese metaethische Position des Naturalismus darf jedoch nicht mit dem inhaltlichen Naturalismus
verwechselt werden , nach dem bestimmte Strukturen und Verfahrensweisen der Natur den MaĂźstab
fĂĽr moralisch richtiges Handeln vorgeben.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441