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4.5 Schlussbemerkungen
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Uebel vermutet , dass der Wiener Aufklärung „die Hoffnung zur Seite gestellt war , dass
immer umfangreichere Kenntnis der natur- und kulturgeschichtlichen Vorbedingungen
sittlicher Handlung die Konvergenz möglicher ‚vernünftiger‘ Zielsetzungen bedingt“ ( Ue-
bel 2000 , 300 ).
Der Zusammenhang zwischen Bildung und Moral kann jedoch verschieden aufgefasst
werden. Zum einen kann eine direkte moralische Bildung intendiert sein , welche das Le-
ben der Menschen über eine Moralisierung der Menschen verbessert. Jodl und mit Ein-
schränkung auch Jerusalem ( und später Schlick ) votierten für diese direkte moralische
Bildung über moralische Charakter- und Persönlichkeitsbildung. Zum anderen kann ein
eher indirekter Zusammenhang gesehen werden , insofern wissenschaftliche Wissensver-
mittlung und Denkschulung stärkere Persönlichkeiten heranbilden würden , die ohne di-
rekte moralische Bildung für eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen
sorgen würden. Dieser Ansicht , die sich bei Jerusalem findet , werden Neurath , Frank und
Hahn folgen. Es ist Uebel zuzustimmen , dass die Wiener Spätaufklärung den normativen
Grund ihrer weltlichen Ethik schuldig geblieben ist – so die Suche nach einem solchen
überhaupt sinnvoll ist – und der nachfolgenden Generation diese Problematik bewusst
war ( Uebel 2000 , 301 ). Unterschiedliche Antworten auf die Möglichkeit einer Begrün-
dung führen auch im Wiener Kreis zu verschiedenen Ansichten über das Verhältnis von
Bildung und Moral , von Wissenschaft und Moral.
4.5 Schlussbemerkungen
Die Mitglieder des Wiener Kreises nahmen als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger
an einem kulturellen , moralischen , politischen Netzwerk teil , das für eine Lebensverbes-
serung der Menschen eintrat.111 Bergmann erinnert sich :
Man nahm diesen Gruppen [ anderen Philosophen der Universität ; A. S. ] gegenüber viel-
mehr bewußt die Haltung einer „linken“ Opposition ein , und wenn man sich auch als Wis-
senschaftler zu einem besonderen Aktivismus nicht gedrängt sah und politischen Bindun-
gen gegenüber gerne die kritische Freiheit der liberal-radikalen Intelligenz , der man ja nach
Herkunft und schichtmäßig auch tatsächlich angehörte , in Anspruch nahm , fühlte man sich
doch als Mitkämpfer in einer breiten Front des Fortschritts und war sich , soweit man über-
haupt zu historischer Betrachtung neigte , des geistesgeschichtlichen Zusammenhangs mit
jeder Aufklärung wohl bewußt. ( Bergmann 1936 [ 2006 , 641 ])
111 Das Engagement fand über diesen institutionellen Rahmen hinaus auf karitativem , „privatem“ Wege
statt. Von Schlick ist beispielsweise bekannt , dass er ein Waisenheim in Palästina unterstützte. ( van
de Velde-Schlick 2008 , 27 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441