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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
192 The study of ethics should concern only the social structures yielded by combining indivi-
duals with different ethical positions , not pronouncements about the intrinsic value of their
stances. Menger denaturalizes ethics , retreating to an abstract combinatoric analysis of the
consequences of normative choices ; any discussion of their value or merit is consigned , like
the intuitionist claims in mathematics , to the separate realms of psychology and biography.
( Leonard 1998 , 22 )
Klarerweise ist damit aber sehr wohl die Gefahr verbunden , dass die Grenzen einer Dis-
ziplin „Ethik“ nicht nur vage , sondern gänzlich offen bleiben. Jeder wissenschaftliche Bei-
trag , der für ein Zusammenleben unter welcher Norm auch immer von Vorteil sein kann ,
würde zur Ethik zählen.
6.4.3 Gefährdet eine solche Ethik die Moral ?
Gefährdet eine solche Ethik die Moral ? Der Brentano-Anhänger Kraus von der Deut-
schen Universität Prag schrieb in einem Brief an eine Wiener Cousine , die mit Menger
bekannt war , das Buch sei falsch und unmoralisch , wie in Kapitel 3 der vorliegenden Un-
tersuchung bereits erwähnt. Diese war so alarmiert , dass sie den Brief und Mengers Buch
mit Schlick diskutierte. Wobei sie Schlick nur halb beruhigen konnte , und sie sich des-
halb an Max Planck wandte , der ihr schließlich versicherte , das Buch sei weder inkorrekt
noch unmoralisch. Erst Planck konnte ihre Bedenken zerstreuen. ( Menger 1994 , 191 )248
Mengers Ethik kommt ganz ohne Moral aus. Sie braucht , wie in Siegetsleitner / Leit-
geb 2010 näher ausgeführt , weder echte normative Operatoren noch minimale , allgemein-
verbindliche Normen. Wie lässt sich unter diesen Voraussetzungen die Kritik jener ab-
wehren , die bestimmte minimale inhaltliche Standards als notwendigen Bestandteil jeder
Moral sehen ? Was wäre beispielsweise mit einer Gruppe von Kinderschändern und ih-
ren ihre Handlungsweisen tolerierenden Familien : Würde es wirklich hinreichen , die-
se Gruppe ausreichend von jenen zu separieren , die dies nicht gutheißen ? Muss nicht
jede Moral ( und somit auch jede Ethik ) von minimalen Grundnormen ausgehen , die für
alle Gruppen verbindlich sind ?249 Auf diesen Einwand gilt es klarzustellen , dass Men-
gers Theorie nur auf Gruppenzusammenschlüsse aufgrund individueller Willensentschei-
dungen , sich für oder gegen bestimmte moralische Normen auszusprechen , anzuwenden
ist. Wofür Modelle untersucht werden , sind pluralistische Lösungen auf der Basis indi-
vidueller Entscheidungen.250 Jene Kinder , denen im Falle von sexueller Gewalt die Sorge
gilt , fallen aus dem Anwendungsbereich heraus. Wo nicht frei entscheidende Gruppen-
248 Zu Kraus und seinen Bedenken gegenüber der Ethik im Wiener Kreis siehe auch das Carnap-Kapi-
tel der vorliegenden Untersuchung.
249 Diese Frage wurde von Hannes Leitgeb in unserem gemeinsamen Beitrag Siegetsleitner / Leitgeb
2010 zur Diskussion gestellt.
250 Diesen Pluralismus betont Menger besonders im Nachwort zur englischen Ausgabe.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441