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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
180 Menschen erreichen will , für den sei der Kategorische Imperativ ja nicht hinreichend.
Schlichtheit garantiert zwar Selbstverträglichkeit , aber eben nicht Verträglichkeit. Au-
ßerdem sei der Kategorische Imperativ nicht notwendig für Allverträglichkeit. Auch wer
nicht schlicht ist , kann , wie wir gesehen haben , durchaus allverträglich sein. Menger ur-
teilt über den Kategorischen Imperativ deshalb :
Wir sehen also : Will man allgemeine Verträglichkeit der Menschen erreichen , so ist der kategori-
sche Imperativ keine hinreichende Vorschrift , da ja schlichte Menschen nicht miteinander verträg-
lich sein müssen. Andererseits ist , wenn man bloß gewisse Verhaltensweisen ausschalten will , die
sich in größerer Zahl in größere Gemeinschaften nicht einordnen lassen , der kategorische Imperativ
keine notwendige Bedingung , da ja ein Mensch , der nicht schlicht ist , darum einer Einordnung in
größere Gruppen durchaus nicht unfähig sein muß. ( Menger 1934a [ 1997 , 174 ])
Damit sagt Menger : Toleranz gegenüber dem Verhalten anderer ermög licht größere Ver-
träglichkeitsgruppen als Schlichtheit. Menger in den Mund gelegt : „Eine Einschränkung
der Forderung nach Allgemeingültigkeit halte ich auch für moralische Normen durchaus für
vertretbar. Damit verwirft Menger nicht nur Kants Kategorischen Imperativ , sondern je-
des Argument in der Ethik , dem Generalisierung als Grundlage dient , wie Thomas Cor-
nides zu Recht bemerkt. ( Cornides 1983 , 10 ) Tatsächlich führt Menger in seinem Aufsatz
von 1983 die Kritik an Kants Kategorischem Imperativ als erste Motivationsquelle seiner
Ausführungen an. ( Menger 1983 , 13 )
Uniforme Normensysteme sind für allgemeine Harmonie also ein Hindernis. Den Ka-
tegorischen Imperativ deshalb zu kritisieren , heißt aber damit auch , als Ziel der Moral zu
sehen , möglichst große Verträglichkeitsgruppen zu ermöglichen. Im Unterschied zu an-
deren Ausführungen stellt hier Menger nicht klar , dass diese Kritik nur auf bestimmten
Vorlieben seinerseits beruht. Menger wollte jedenfalls die vielfältigen Möglichkeiten so-
zialer Arrangements darlegen und trat vehement gegen Reinheits- und Ausschließungs-
gebote auf.
6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus
An metaethischen Bedeutungstheorien , wie sie für das vorherrschende Verständnis der
Ethik des Wiener Kreises grundlegend sind , war Menger nicht sonderlich interessiert.
Dennoch lässt sich aus dem im Buch Ausgeführten so manche Ansicht erschließen. So
auch in der Frage , welche Bedeutung( en ) die Sätze der Moralen 1. Stufe haben.
Moralen 1. Stufe sind nach Menger Systeme von Normen , die er als Imperative in-
terpretiert , wie die von ihm angeführten Beispiele „Du sollst nicht stehlen !“ ( Menger
1934a [ 1997 , 123 ]) oder „Du sollst keinen Raubmord begehen !“ ( Menger 1934a [ 1997 ,
125 f. ]) zeigen. Wobei in weiteren Beispielen ersichtlich wird , dass auf das „sollen“ sei-
nem Verständnis nach getrost verzichtet werden kann. „Du sollst keinen Raubmord be-
gehen !“ besagt nicht mehr als „Begehe keinen Raubmord !“. Menger versteht Normen
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441