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6.5 Menger und die Angewandte Ethik
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mitglieder von Handlungen betroffen sind , hat Menger nichts vorzuschlagen. Menschen ,
die nicht frei entscheiden können , bleiben unberücksichtigt und ausgesetzt , da nicht ein-
mal für minimalen Schutz Platz vorgesehen ist. Menger setzt ein Machtgleichgewicht in
der Entscheidungssituation voraus. Ist schon fraglich , wie vollständig sich Gruppen mit
unterschiedlichen Normensystemen in der Praxis voneinander trennen lassen , und es an
Kontaktstellen ohne die Billigung von gemeinsamen Grundnormen auch jederzeit Poten-
zial für Konflikt und Eskalation geben wird , so liegt darin eine weitere Beschränkung der
Praxistauglichkeit. Dennoch muss hier zweierlei unterschieden werden : Mengers formale
Theorie heißt nicht ein bloßes Trennen gut , sondern das Problem bewegt sich außerhalb
seines Anwendungsbereiches.
Aber gefährdet Mengers Moral- und Ethikverständnis nicht die Moral auf einer all-
gemeineren Ebene ? Zwar nicht dort , wo es um bestimmte Inhalte geht , jedoch um die
Moral als bestimmtes Spiel ? Nämlich eines , bei dem moralische Äußerungen wahr oder
falsch sein können und nicht nur richtig oder falsch in Relation zu einem bestimmten mo-
ralischen Maßstab bzw. einem vorausgesetzten Normensystem. Die Antwort darauf lau-
tet : ja. Dies ist jedoch nur für jene ein Problem , die das , wenn schon nicht für die Moral ,
so doch für jede Moral als wesentlich erachten. Der erkenntnistheoretische fundamenta-
le Nonkognitivismus zerstört bestimmte Arten von Moral und mit ihnen einhergehende
Forderungen und Verhaltensweisen , jedoch nicht jede Moral.251
6.5 Menger und die Angewandte Ethik
Was hat Menger für die moralische Praxis zu bieten ? Ethik hat nach Menger für die Mo-
ral hilfreich zu sein. Insofern gibt es bei Menger einen Primat der Moral , und er hat für
die moralische Praxis durchaus etwas anzubieten. Menger stellt dar , welche pluralistischen
Lösungswege – auch in manchen Moralfragen ! – möglich wären. Warum sollten morali-
sche Regelungen für alle einheitlich sein ? Warum soll keine in vielen Bereichen pluralis-
tische , differenzierte Moral friedlich lebbar sein ?
In wie vielen Fällen sehen wir , daß eine Menschengruppe ein gewisses Verhalten zu beobach-
ten wünscht und zur Erfüllung dieses Wunsches nur in ihrer Gruppe gewisse hierzu dienliche
Vorschriften gesetzlich gewährleistet sehen muß , während für sie belanglos wäre , wenn eine
andere Gruppe , die andere Absichten hat , sich anders verhielte , da so oftmals diese Verhal-
tensweisen bei verschiedenen Gruppen einander nicht ausschließen , selbst dann nicht , wenn
die Gruppen beisammenleben ! ( Menger 1934a [ 1997 , 206 ])
251 Georg Nöbeling , einer der ersten Schüler und engsten Mitarbeiter Mengers , lehnte das Buch ent-
schieden ab. Er wandte ein , formale Methoden wären in sozialen und moralischen Fragen gänzlich
unpassend. Die Freundschaft ging über diese Differenzen in die Brüche. ( Leonard 1998 , 24 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441