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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Wobei sich Feigl positiv zur darin geäußerten Werthaltung äußert :
Dort offenbart er sich als der Fackelträger einer Wertlehre , von der wir nur hoffen können ,
daß sie einmal so selbstverständlich werde , wie sie jetzt vielleicht manchem als weltfremd
und utopisch erscheinen mag : [ … ] ( Feigl 1937/38 , 394 )
Was einen Vergleich dieser Schrift mit der Standardauffassung logisch-empiristischer
Ethik anbelangt , entspricht diese der Standardauffassung weder in Stil noch in Inhalt.
Schlicks Vom Sinn ist im Unterschied zur Lebensweisheit klar normativ ausgerichtet , was
sie der Standardauffassung gemäß nicht sein dürfte. ( Vgl. auch Rutte 1986 , 163 ) Ist Schlick
einfach noch nicht im Logischen Empirismus angekommen ? Als eine Art Fossil über-
nehme dieser Aufsatz die Themen und Denkweisen aus Schlicks frühester Zeit , „als hät-
te es die Begegnung mit Wittgenstein und dem Wiener Kreis nie gegeben“. ( Mormann
2010a , 277 ) Immerhin war Schlick ab 1924 mit Wittgenstein in Kontakt gestanden. Besser
zur Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik scheint Schlicks Schrift Fragen zu
passen. Wir werden sehen , wie viel sich durch die Begegnung mit Wittgenstein und dem
Wiener Kreis bis dahin geändert haben wird.
9.3.2 Fragen der Ethik ( 1930 ): eine logisch-empiristische Ethik ?397
9.3.2.1 Einleitung
Schlicks ethische Hauptschrift Fragen der Ethik erschien 1930 , eine englische Überset-
zung durch David Rynin , Schlicks Assistenten in Kalifornien , 1939 ( New York : Prenti-
ce Hall Inc ).398 Mathias Iven , der sich eingehend mit der Entstehungsgeschichte der Fra-
gen beschäftigt hat , ist sich sicher , das Werk sei in relativ kurzer Zeit geschrieben worden.
( Iven 2006c , 335 )399 Erste Überlegungen zur Abfassung stellte Schlick jedoch wahrschein-
lich schon im November 1927 an. Im Dezember 1927 hielt er in der Kulturwissenschaftli-
chen Gesellschaft Wiens einen Vortrag über moderne Moralphilosophie ( Iven 2006a , 5 f. ),
397 Teile des Abschnitts 9. 3. 2 sind in einer früheren Version in Siegetsleitner 2010b erschienen.
398 Auch Arthur Schilpp war im Sommer 1929 in Stanford Schlicks Assistent. Die Beziehung endete je-
doch 1935 in einem Zerwürfnis. ( Friedl / Rutte 2008b , 367 f. , auch Feigl 1969b [ 1981 , 68 ]) Schilpp hat-
te schon 1927 ein Werk von Kraft rezensiert ( Schilpp 1927 ).
399 Schlick verfasste das Werk vermutlich im Urlaub und ohne Sekundärliteratur. Er arbeitete gerne im
Urlaub , den er am liebsten an einem See , am Meer oder in den Bergen verbrachte. Häufig wurden die
Urlaube am Millstätter See verbracht. Seine Tochter Barbara erinnert sich : “There , sitting on a sunlit
stone or tree trunk , he liked writing. [ … ] The holidays were the only period that my father found the
time and quietness to write down his thoughts on paper , [ … ]. During semester vacations ( East er ,
autumn ) he usually went to Yugoslavia or Italy , inspired by the southern climate and the harmonic
landscape at the Adriatic Sea ; [ … ].” Auf derselben Seite bekundet sie noch : “Now and then , he told
us jokingly he preferred the life of a wanderer.” ( van de Velde-Schlick 2008 , 24 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441