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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
356 10.2.2 Normative inhaltliche Ethik : Rationale Moralbegründungen
10.2.2.1 Moralische Werturteile nur als bedingte begründbar : Die Grundlagen einer
wissenschaftlichen Wertlehre , 1. Auflage ( 1937 )
Kraft betont 1973 in einem Interview , er habe in der Wertlehre noch keine Moralbegrün-
dung unternommen. ( Kraft 1973a , 22 ) Dies trifft insofern zu , als er dort keine Begründung
einer bestimmten Moral vorgenommen hat. Mit der Thematik einer Moralbegründung
beschäftigte er sich darin hingegen sehr wohl. Es findet sich eine Reihe von Hinwei-
sen , was bei einer Begründung von moralischen Urteilen gezeigt werden muss – als me-
taethische Aufgabe – und wie dies konkret für die bestehende Moral unternommen wer-
den könnte.
Ethik ist für Kraft ein spezielles Gebiet der Wertlehre ( bzw. später vermehrt der Nor-
menlehre ). Wie im vorausgehenden Abschnitt erläutert wurde , sind für ihn Werturteile
keine individuellen , sondern überindividuelle , unpersönliche Auszeichnungen. Sie beste-
hen nicht nur für eine( n ) selbst oder für eine bestimmte Person. Was unpersönlich aus-
gezeichnet ist , ist es von einem überindividuellen , gemeinsamen Standpunkt aus. ( Kraft
1937 , 152 f. ) Insofern handelt es sich bei Kraft bei einer Moral um eine gemeinsame Pra-
xisform , die allgemeine Anerkennung fordert. Wie lässt sich nun eine Forderung nach all-
gemeiner Anerkennung begründen ?
Nicht zu leisten ist eine Moralbegründung nach Kraft durch den Hinweis auf tatsäch-
lich übereinstimmende Wertungen. Eine Argumentation , die sich darauf stützt , scheitert
nicht nur daran , dass unterschiedliche Begehrensziele und Bedürfnisse zu unterschied-
lichen Wertungen führen ,492 denn soweit Individuen sich aufgrund ihrer allgemeinen
menschlichen Organisation gleichen , wären ihre Bedürfnisse , Ziele und Lust-Unlust-
Anlässe gleichartig und würden in ihren Wertungen auch übereinstimmen. ( Kraft 1937 ,
161 f. )493 Der Sinn eines unpersönlichen Werturteils sei aber nicht , eine solche tatsächliche
492 „Die Zwecke wechseln , nicht nur individuell , sondern auch ethnisch und historisch.“ ( Kraft 1937 ,
160 )
493 In der 2. Auflage wird hier folgende Ergänzung eingeschoben : „Es gibt wohl allgemein menschliche
Bedürfnisse , die jeden zur Befriedigung drängen : nach Nahrung , Schutz , Hilfsmitteln. Und es gibt
Lust- und namentlich Unlust-Anlässe , die für alle die gleichen sind – normalerweise ! Schmerzen ,
Zwang und Entbehrung gelten allgemein als Übel ; Lebenssicherheit , Wohlbefinden , Leistungsfä-
higkeit werden im allgemeinen geschätzt. Aber dadurch werden zum Teil nur Klassen von Gütern
und Übeln ausgezeichnet , innerhalb deren die Zugehörigkeit wechselt und damit die konkrete Wer-
tung. Was als Zwang , als Entbehrung empfunden wird , was Wohlbefinden ver anlaßt , worin die Leis-
tung bestehen soll , das kann nicht nur verschieden , sondern auch unverträglich sein. Es gibt Leute ,
die die Freiheitsberaubung durch Gefängnis nicht als unliebsamen Zwang , sondern als willkomme-
ne Versorgung betrachten. Zum andern Teil ist die Übereinstimmung in der Wertung gar nicht völ-
lig allgemein. Selbst Schmerzen können positiv gewertet werden , wie es in der Algolagnie der Fall
ist ; Lebenssicherheit gilt im Buddhismus nichts und Gesundheit nichts dem Asketen ; Entbehrung
sucht er sogar , weil er sie als verdienstliche Tugend einschätzt.“ ( Kraft 1951 , 195 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441