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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und
wissenschaftlicher Humanismus
5.1 Einleitung
Wie sehr sich das vorherrschende Verständnis der Konzeption von Ethik und Moral im
Wiener Kreis ( und des Logischen Empirismus ) neben Ausführungen vonseiten Ayers vor-
nehmlich auf solche Carnaps ( häufig wiederum in Ayers Interpretation ) stützt , ist bereits
in vorhergehenden Kapiteln herausgestrichen geworden. Es sind gerade Carnaps Ansich-
ten und die radikale Version Ayers , die gemeinhin als die paradigmatische Konzeption
von Ethik und Moral im Wiener Kreis gelten. Schon aus diesem Grunde ist es von be-
sonderem Interesse , der Frage nachzugehen , ob diese herkömmliche Auffassung zumin-
dest berechtigterweise in Carnap einen Kronzeugen findet. Ich werde deshalb diese Un-
tersuchung mit der genaueren Prüfung der Konzeption von Ethik und Moral bei Carnap
beginnen.
Wie die Werke vieler anderer Mitglieder des Wiener Kreises laufen auch etliche Schrif-
ten Carnaps auf Wert- und Moralfragen hinaus. Diese genauere Prüfung soll Fehlinter-
pretationen von Carnaps Konzeption offenlegen und solche in Zukunft vermeiden helfen.
Auch wenn durchaus kritisch zu fragen ist , wie sach- und problemadäquat sich Carnaps
Ausführungen zu Moral und Ethik darstellen , so sollen Carnap dennoch keine Ansich-
ten unterstellt werden , die er so nie oder nur für sehr kurze Zeit vertreten hat. Es geht hier
also nicht zuletzt darum , Carnaps Ansichten historisch gerecht zu werden.
Carnap ( 1891–1970 ) war nicht von Beginn an bei den Treffen des Schlick-Zirkels dabei
und zählt gewissermaßen zur mittleren Generation des Kreises. Er wurde erstmals 1925 zu
einem Vortrag nach Wien eingeladen und bekam schließlich eine Stelle als Privatdozent
angeboten. ( Feigl 1970 , XII f. )112 Im Studienjahr 1925 /26 habilitierte sich Carnap mit einer
Urfassung des Logischen Aufbaus der Welt ( im Folgenden : Aufbau ). Carnap war zweifellos
das auf lange Sicht international einflussreichste Mitglied des Wiener Kreises. Er ist mit
seinen Arbeiten auf den Gebieten der Logik und Philosophie der Logik , der Sprach- und
Wissenschaftsphilosophie sowie der Philosophie der Mathematik zu einer Vaterfigur der
überwiegend in den Vereinigten Staaten sich ausbildenden empiristischen , analytischen
Philosophie geworden ( Hochkeppel 1993 , 149 ), und zwar in jener Ausprägung , die als Kern
philosophischer Tätigkeit die Konstruktion von Kunstsprachen sieht.113 Stegmüller hielt
112 Schlick und Hahn hatten über die Vergabe zu entscheiden. Hahns Votum gab schließlich Carnap
den Vorzug vor Reichenbach. ( Feigl 1970 , XIII )
113 Carnap ist für weite Teile der Analytischen Philosophie sogar die Vaterfigur. Seine Geschichte und
Entwicklung bildet in der Geschichte der Analytischen Philosophie , wie sie herkömmlich erzählt
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441