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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
9.1 Einleitung
Wie ich bereits im 2. Kapitel im Ăśberblick ausfĂĽhrte , ist fĂĽr Moritz Schlick , den GrĂĽn-
der und die zentrale Gestalt des Wiener Kreises , der Vorwurf , Moral wäre für ihn als
Mensch / BĂĽrger unwichtig gewesen , klar zurĂĽckzuweisen. Schlick war von Jugend an
bis hin zu seiner Ermordung im Jahre 1936 ( siehe Malina 1988 ) an moralischen Fragen
interessiert , was sich in seinen Wiener Jahren u. a. an seinem Engagement in der Ethi-
schen Gemeinde und dem Verein Allgemeine Nährpflicht zeigte. Er war ein – wenngleich
nicht parteipolitisch – engagierter , liberaler Demokrat. Aber nicht nur dieses. Eben-
so wenig trifft der zweite Vorwurf , Moral und Ethik seien fĂĽr die Mitglieder des Wie-
ner Kreises fachlich als Philosophinnen und Philosphen bzw. Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler von geringem bis keinerlei Interesse gewesen , bei Schlick eindeutig ins
Leere , obgleich sich diese Einschätzung hartnäckig hält. Die Hartnäckigkeit liegt vor
allem daran , dass von Carnap und Ayer vorschnell ohne weitere Kenntnisse auf Schlicks
Position geschlossen wird. Dies läuft ganz nach dem Motto , Carnap und Ayer hätten
schließlich die Position des Wiener Kreises pointiert formuliert , Schlick wäre der Lei-
ter des Kreises gewesen und hätte somit wohl ebenfalls diese gemeinsame Position ver-
treten. Dem ist jedoch nicht so.
Schlick war durchaus ĂĽberzeugt , die Philosophie habe Entscheidendes fĂĽr die Le-
benspraxis beizutragen , und er beschäftigte sich entgegen landläufigen Annahmen fast
vierzig Jahre lang mit Moral und Ethik. Schon in Jugendtagen kreiste sein Denken nicht
zuletzt um Fragen der Moral und LebensfĂĽhrung. Dies zeigt sich deutlich in seiner Ju-
gendpublikation Lebensweisheit. Versuch einer GlĂĽckseligkeitslehre ( im Folgenden : Lebens-
weisheit ), die er als 26-Jähriger veröffentlichte. Auch noch in einer Zeit , die , obwohl die
Abgrenzung von Schlicks logisch-empiristischer Phase einige Schwierigkeiten bereitet ,342
der logisch-empiristischen Phase zuzurechnen ist , nämlich 1930 , erschien seine ethische
Hauptschrift Fragen der Ethik ( im Folgenden : Fragen ). Sie wurde als Band 4 der von
Schlick und Frank gemeinsam herausgegebenen Schriftenreihe Schriften zur wissenschaft-
lichen Weltauffassung veröffentlicht.
Als Studienfach wählte Schlick zwar nicht die Philosophie , sondern die Physik. Das of-
fizielle Studium hatte sich seiner Ăśberzeugung nach der Gewinnung solider Grundlagen
zu widmen. Die Bildung einer Weltanschauung , die er fĂĽr die Aufgabe der Philosophie
hielt , war den „Feierstunden des Daseins“ vorbehalten , wie er in einer autobiografischen
342 Johannes Friedl und Heiner Rutte , die Herausgeber von Band 6 der Abteilung I der Moritz-Schlick-
Gesamtausgabe ( im Folgenden : MSGA ), setzen ihren Beginn mit 1926 an. ( Friedl / Rutte 2008c , 479 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441