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3.2 Die Rezeption in der Frankfurter Schule und im Positivismusstreit
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Von Studenten hörte ich , er stelle in einem seiner Seminare meine These über die Natur von
Werturteilen als so gefährlich für die Moral der Jugend dar , daß er ernsthaft die Frage er-
wogen habe , ob es nicht seine Pflicht sei , die Behörden anzurufen , um mich ins Gefängnis
zu bringen. Schließlich , sagte er , sei er aber zu dem Schluß gekommen , daß das nicht das
Rechte sei , weil ich , obwohl meine Lehre ganz falsch sei , kein wirklich schlechter Mensch
sei. ( Carnap 1963a [ 1993 , 128 ])
Kraus schrieb aufgrund ähnlicher Bedenken in einem Brief an eine Wiener Cousine , die
mit Menger bekannt war , dessen Buch Moral , Wille und Weltgestaltung sei falsch und un-
moralisch. Erst Max Planck , dem sie hohe wissenschaftliche und moralische Autorität zu-
billigte , konnte sie beruhigen. ( Menger 1994 , 191 ; vgl. auch das Schlick-Kapitel der vor-
liegenden Untersuchung )
3.2 Die Rezeption in der Frankfurter Schule und im Positivismusstreit
Besonders in Deutschland , wo der Positivismus – für den Logischen Empirismus sind
auch die Namen „Logischer Positivismus“ und „Neopositivismus“ geläufig
– einen schlech-
ten Ruf genießt , ist diese Beurteilung des Wiener Kreises und seiner Positionen in Moral
und Ethik noch immer weit verbreitet. Dies ist nicht zuletzt einem alten Angriff auf den
Wiener Kreis durch Max Horkheimer ( mit Theodor Adorno im Hintergrund ) aus dem
Jahre 1937 und dem sogenannten „Positivismusstreit“ aus den 1960er-Jahren geschuldet.
1937 wirft Horkheimer in seinem längeren Artikel „Der neueste Angriff auf die Metaphy-
sik“, der gewissermaßen der Leitartikel im Jubiläumsheft der Zeitschrift für Sozialforschung
( zum fünfjährigen Bestehen ) war ,44 dem Positivismus vor , er könne nicht auf rationale
Weise zwischen Glück und Unglück , gerecht und ungerecht unterscheiden.45 Der Logi-
sche Empirismus könne deshalb weder etwas gegen den mittelalterlichen Hexenglauben
noch etwas gegen den grassierenden Antisemitismus einwenden.46 Die Theorie führe zu
einem individualistischen Relativismus bzw. Dezisionismus , den Horkheimer als eine in-
adäquate ethische Theorie ablehnt.
44 So die Charakterisierung durch Dahms ( 1994 , 144 ). Ich folge in diesem Abschnitt weitestgehend der
Darstellung in Dahms 1994.
45 Der größte Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit einer Kritik am positivistischen Erfahrungs- und
Wissenschaftsbegriff. Zu einer allgemeinen Diskussion dieses Artikels und zu Kooperationsbestrebun-
gen zwischen Frankfurter Schule und Logischem Empirismus siehe ausführlich Dahms 1994.
46 Dahms weist zu Recht darauf hin , gerade Erfahrungskontrolle hätte hier einen erheblichen Beitrag
zur Zerstörung dieser Ideologien leisten können. ( Dahms 1994 , 138 ) Dies ist jedoch nicht Horkhei-
mers Punkt.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441