Seite - 13 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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1. Einleitung
1.1 Die Forschungsfragen
So wie die Entwicklung der Ethik , d. h. der Moralphilosophie , gemeinhin dargestellt
wird , ging es im 20. Jahrhundert bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus zunehmend und
schließlich beinahe ausschließlich um die Analyse moralischer Sprache. Einer der ver-
meintlichen Haupttäter für diese Engführung gilt überdies zumeist schnell als ausge-
forscht : der Wiener Kreis bzw. der Logische Empirismus.1 Aus dem Wiener Kreis und
weiteren europäischen philosophischen Gruppen , vor allem der Berliner Gruppe um Hans
Reichenbach , ging eine philosophische Bewegung hervor , die heute weithin als „Logi-
scher Empirismus“, „Logischer Positivismus“ oder „Neopositivismus“ bekannt ist. Das
Verhältnis dieser Bewegung zu Moral und Ethik wird nicht ohne Grund als ein schwie-
riges erachtet. So wurde über Jahrzehnte hinweg ein moralischen Fragen und einer philo-
sophischen Ethik abträgliches Bild des Wiener Kreises und seiner Philosophie vermittelt :
[ … ] nämlich dem Bild von Feinden jeder philosophischen Fragestellung , die sich in gläu-
biger Unterwerfung unter die empirischen Wissenschaften , insbesondere die Physik , und in
freiwilliger Selbstbeschränkung Fragen über den engen Gesichtskreis der einzelwissenschaft-
lichen Forschung hinaus nicht gestatten , ja diese auch noch verbieten wollen ( Occams Ra-
siermesser ! ), [ … ]. ( Nemeth 1990 , 84 )
Verhielten sich die Mitglieder des Wiener Kreises jedoch tatsächlich gegenüber Moral
und Ethik so ablehnend , wie es die noch immer weit verbreitete philosophische Meinung
annimmt ? Die philosophische und historische Untersuchung des Wiener Kreises seit nun-
mehr vier Jahrzehnten hat in vielerlei Hinsicht zu einer Neubewertung des Wiener Krei-
ses geführt. Wer an der Aufarbeitung des frühen Logischen Empirismus in den letzten
1 Carnap begründet im Vorwort zur zweiten Auflage des Aufbaus diese Wortwahl : Die Aufgabe bestehe
darin , eine Synthese des alten Empirismus mit dem alten Rationalismus herzustellen. Der Name „Lo-
gischer Empirismus“ soll die beiden Komponenten andeuten. ( Carnap 1928a [ 1998 , XVII f. ]) In einem
seiner letzten Briefe an Carnap hebt Neurath hervor , dass er es war , der gegen großen Widerstand im
Kreis für diesen Namen eintrat , dies jedoch – wie so oft bei von ihm eingebrachten Ideen – im Wei-
teren keiner Erwähnung mehr für wert gefunden wurde. ( Neurath an Carnap , 16. Juni 1945 , Nachlass
Neurath , Inv.-Nr. 223 ) Neuraths Nachlass ist neben dem Nachlass Schlicks Teil des Vienna Circle Ar-
chivs , das sich in Haarlem in der Nähe von Amsterdam befindet. Die Inventarnummern der Nachläs-
se Neurath und Schlick folgen dem Inventarverzeichnis des wissenschaftlichen Nachlasses von Moritz
Schlick und Otto Neurath , das Reinhard Fabian 2007 erstellte. Es ist abrufbar unter : http://vienna-
circlefoundation.nl/VCArchive.pdf. Alle Zitate aus Dokumenten der Nachlässe Neurath und Schlick
erfolgen mit Genehmigung der Vienna Circle Foundation. Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441