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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
102 Haeckels Kulturtheorie war durch ungebrochenen Fortschrittsoptimismus geprägt.
Die naturwissenschaftlich begründete , einheitliche Weltanschauung verwerfe , so heißt
es im Gründungsmanifest des Deutschen Monistenbundes , den Glauben an die veralteten ,
traditionellen Dogmen und Offenbarungen und setze an ihre Stelle die reine Vernunft.
In den 1899 publizierten Welträthseln , einem Bestseller , spricht Haeckel von „unserer
monistischen Religion“. ( Werner 2003 , 50 ) Obwohl Diederichs den Monisten zwiespäl-
tig gegenüber stand , gestand Carnap selbst den großen Einfluss dieser Freidenkerbewe-
gung auf ihn :
Ich las eifrig die Schriften der Führer dieser Bewegung , zum Beispiel die des Zoologen
Ernst Haeckel oder des prominenten Chemikers Wilhelm Ostwald. Obwohl die meis-
ten dieser Bücher nicht als ernsthafte philosophische Schriften in Frage kamen , sondern
eher zur populärwissenschaftlichen Literatur zählten und ihre Darstellungen nach er-
kenntnistheoretischen Maßstäben meist höchst primitiv schienen , war mir dennoch ihr
Beharren darauf , daß die wissenschaftliche Methode zur Gewinnung begründeten , sys-
tematisch zusammenhängenden Wissens die einzige sei , sympathisch , ebenso ihr huma-
nistisches Ziel , durch rationale Mittel und Wege das Leben der Menschheit zu verbes-
sern. ( Carnap 1963a [ 1993 , 11 ])
Carnap war also sowohl vom Pietismus seiner Herkunftsfamilie , vom künstlerisch-ro-
mantischen Serakreis , von der volksbildnerischen Reformbewegung eines Abbe als auch
von der an den Naturwissenschaften orientierten Monistenbewegung und der sozialde-
mokratisch ausgerichteten Freistudentenschaft beeinflusst. Bei allen Unterschieden teilten
diese Gruppierungen eine humanistische Lebenseinstellung , d. h. eine eudämonistische
Einstellung , die alle Menschen berücksichtigt , wie sie auch die Wiener Spätaufklärung
auszeichnete. Der Pietismus legte darüber hinaus auf die moralische Authentizität wert ,
die Volksbildungsbewegung auf Lebensverbesserung durch Bildung , der Monistenbund
zudem auf rationale Mittel und die herausragende Rolle der Wissenschaft zur Verbesse-
rung der menschlichen Lebensumstände.
5.2.3 Frühe philosophische Einflüsse
Neben dem soeben ausgeführten frühen außerphilosophischen Umfeld nahmen auch phi-
losophische Strömungen Einfluss auf Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor sei-
ner Wiener-Kreis-Periode. Obwohl an den entsprechenden Punkten näher darauf einzu-
gehen sein wird , sei hier einleitend ein kurzer Überblick über diese gegeben , insbesondere
über den Einfluss der Lebensphilosophie und des Neukantianismus , da diese für das The-
ma dieser Untersuchung am wichtigsten sind.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441