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12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen
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Gar nicht widersprechen würde Carnap vermutlich jener Behauptung wollen , der Lo-
gische Empirismus zerstöre bestimmte Ansichten von Werten und Moral ( dass sie not-
wendig zeitlos , vom Wollen und Streben der Menschen unabhängig seien etc. ). Insofern
erweist sich der Logische Empirismus tatsächlich als eine Bedrohung für politisch kon-
servative Kreise , denn abgelehnt wurde in der Tat alles , was Absolutismus und Unfehlbar-
keit im Gepäck hatte ( Intuitionismus , religiöser Naturalismus usw. ) sowie alles Weltabge-
wandte. Dies gilt für alle anderen im Kreis vertretenen metaethischen Positionen gleichfalls.
12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen
Welche Beiträge dachten die Mitglieder des Wiener Kreises legitimerweise auf Grund
ihres Verständnisses von Philosophie noch leisten zu können ? Was kann die Philosophie
über die Moral noch sagen , was noch zu ihr beitragen ?
Carnap wollte Philosophie als Wissenschaft. Ab der Wiener-Kreis-Periode bestand
diese nur mehr in der formalen Strukturtheorie der Wissenschaftssprache , wobei es ihm
zunehmend um die Konstruktion von Kunstsprachen ging. Carnap kann dahingehend als
Kronzeuge der Standardauffassung gelten , als Philosophie in Bezug auf Moral letztlich
nur feststellen könne , moralische Wert- und Normsätze seien rein non-kognitiv und phi-
losophisch und theoretisch nicht weiter von Belang. Dabei bezieht sich diese Aussage nur
auf Grundnormen und letzte Werte , was so leider meist nicht ausgewiesen wird. Eine mo-
ralische Wahl lag für Carnap in einer Wahl von letzten Normen und Werten. Wert- und
Normsätze , die in der Ethik als theoretische Sätze auftreten , werden 1931/32 in „Über-
windung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ nun als gänzlich sinnlos
und metaphysisch bezeichnet. Normative Ethik war als Unter nehmen diskreditiert. Eine
nicht-normative inhaltliche Ethik , die sich auf relative Urteile beschränkt hätte , stand für
Carnap nicht zur Debatte.
Auch für Menger kommt eine normative Ethik nicht infrage. Möglich bleibt für eine
Ethik als streng wissenschaftliches Unternehmen zum einen die Feststellung von Tatsa-
chen und erfahrungsgemäßen Regelmäßigkeiten in Moralen ( Psychologie , Soziologie ,
Anthropologie und Biologie der Sitten ). Zum anderen kann eine Logik der Sitten erarbei-
tet werden , die Menger in die Deontische Logik und in exaktwissenschaftliche Modelle
für die moralische Praxis unterteilt. Im Rahmen Letzterer kann nicht zuletzt in konstruk-
tiver Weise eine moralisch neutrale Ethik betrieben werden , indem alternative Organisa-
tions- und Kooperationsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
Neurath wollte in seiner Wiener-Kreis-Periode gar kein Unternehmen mit dem Na-
men „Ethik“ betreiben , ebenso wenig wie er überhaupt noch Platz für Philosophie sah.
Probleme , die bisher von der Ethik behandelt worden waren und im Rahmen der Einzel-
wissenschaften untersucht werden können , sollten in diesen erforscht werden. Hier dach-
te Neurath vor allem an Nationalökonomie und Soziologie. Diese wollte er mit dem Ziel
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441