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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
194 Des Weiteren gibt Menger offen zu , dass er eine persönliche Präferenz für eine mög-
lichst weitreichende Umsetzung solcher Möglichkeiten hegt und andere mit ihm darin
übereinstimmen könnten. Wer der Ansicht ist , in der Moral gehe es u. a. um die friedli-
che Koexistenz oder zumindest eine Aufteilung in Verträglichkeitsgruppen von frei Ent-
scheidenden auf der Basis von Geschmacks- und Willenseinstellungen , kann Mengers In-
strumentarium für die Lösung moralischer Probleme heranziehen. Menger hat gezeigt ,
dass ein friedliches Zusammenleben nicht immer einheitliche Regelungen braucht. Was
jemand in seiner Umgebung wolle , müsse ja nicht gleich zum „allgemeinen Menschheits-
gesetz“ werden , so warnt Menger vor zu einheitlichen Menschheitsbeglückungen. ( Men-
ger 1934a [ 1997 , 206 ])
In Menger 1994 stellt Menger fest , im Leben werde jedoch selten eine Pluralität von
Regelungen moralischer und sozialer Probleme angestrebt. Die meisten Bevölkerungen ,
ob groß oder klein , suchten nach allgemeinen Lösungen und einheitlichen Regelungen
für alle Mitglieder. Die primären Methoden dazu seien Diktate und Kompromisse. Mit
einheitlichen Regelungen können jedoch viele sozio-moralische Projekte nicht realisiert
werden , obwohl es genügend Anhängerinnen oder Anhänger für eine Realisierung gebe.
( Menger 1994 , 188 f. ) Auf die Frage , ob wir überhaupt etwas regeln müssten , gibt Men-
ger zu bedenken , manche Pläne ließen sich ohne Regelung nicht verwirklichen. ( Men-
ger 1934a [ 1997 , 206 f. ])252
Wenn wir unter Angewandter Ethik philosophische Beiträge zu moralischen Fragestel-
lungen verstehen , dann haben wir auch einen Beitrag zur Angewandten Ethik , der ange-
sichts heutiger moralisch komplexer Gesellschaften nicht zuletzt in der Ethik mehr Auf-
merksamkeit verdient.
6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Mengers Beitrag zur Ethik ist für den Logischen Empirismus kein so untypischer. Men-
ger vertritt sowohl einen semantischen als auch einen erkenntnistheoretischen fundamen-
talen Nonkognitivismus und lehnt eine normative Ethik ab. Insofern steht er Carnaps An-
sichten aus der Wiener-Kreis-Periode sehr nahe. Menger hält moralische Sätze jedoch
schon in Wien für logikfähig und will nicht von deren Sinnlosigkeit sprechen. Mengers
Auffassungen decken sich zudem nicht mit der Standardauffassung logisch-empiristischer
Ethik , insofern er an inhaltlicher Moral interessiert ist , wenngleich nur hinsichtlich for-
maler Hilfsmittel. Mengers Hauptanliegen sind nicht philosophische Ausführungen über
Moral allgemein , sondern er will etwas zu deren Praxis beitragen ; nur eben Anderes , als
252 Menger konnte auch persönlich sehr gut mit einer komplexen Ordnung umgehen. Seymour Kass
berichtet von dem Durcheinander auf Mengers Schreibtisch , in dem er sich jedoch gut zurechtfand.
( Kass 1996 , 561 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441