Seite - 52 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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52 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die
Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik
3.1 Das vorherrschende Bild der Rolle und der Konzeptionen von Moral und
Ethik im Wiener Kreis
Zum vorherrschenden Bild43 der Rolle und der Konzeptionen von Moral und Ethik im
Wiener Kreis zählt die Ansicht , dessen Mitglieder hätten wenig bis keinerlei Interesse an
Moral und Ethik gezeigt. Ihr Interessenshorizont sei mit Wissenschaft ( insbesondere Na-
turwissenschaft ) und Logik , im besten Falle noch allgemeiner Erkenntnistheorie , beson-
ders eng bemessen gewesen. Der Logische Empirismus , der als deren philosophische Po-
sition gesehen wird , gilt vielen auch nur als Position innerhalb der Wissenschaftstheorie.
Diese Ansicht vom Desinteresse an Moral und deren philosophischer Untersuchung
wird genau genommen in zwei Varianten vorgebracht : ( 1 ) In einer Variante wird behaup-
tet , Moral und Ethik seien für die Mitglieder des Wiener Kreises persönlich als Men-
schen und Bürgerinnen oder Bürger unwichtig gewesen. ( 2 ) In einer weiteren Variante
geht es um die fachliche Dimension. In dieser wird behauptet , Moral und Ethik seien für
die Mitglieder fachlich als Philosophinnen oder Philosophen bzw. Wissenschaftlerinnen
oder Wissenschaftler von geringem bis keinerlei Interesse gewesen. Soweit sie sich Mo-
ral und Ethik zuwandten , führte ihr minimales fachliches Interesse aufgrund logisch-em-
piristischer Grundannahmen zur radikalen Ablehnung jeglicher normativen und inhaltli-
chen Ethik und zur Beurteilung von Wert- und Normsätzen ( einschließlich moralischer
und ethisch-normativer ) als ( theoretisch-kognitiv ) sinnlos. Letztere sind zentrale Thesen
einer Position , die ich unten näher erläutern und die Standardauffassung logisch-empi-
ristischer Ethik nennen werde.
Nicht selten ging und geht mit diesem vorherrschenden Bild noch der Vorwurf ein-
her , diese spezifisch logisch-empiristische Ethik würde Moral und Ethik zerstören. Wenn
Wert- und Normsätzen der Status theoretisch-kognitiver Sätze abgesprochen wird , so
führe dies „zwangsläufig zu moralischer Verwahrlosung und Nihilismus“ ( Carnap 1963a
[ 1993 , 128 ]). Als bekanntes Beispiel hielt der Brentano-Anhänger Oskar Kraus von der
Deutschen Universität Prag sowohl die Position Carnaps als auch jene Mengers für ge-
meingefährlich. Laut Carnaps eigenem Bekunden erwog dieser sogar eine Strafanzeige :
43 Wenn ich dieses das „vorherrschende“ Bild nenne , will ich nicht behaupten , dieses werde ( noch ) von
allen Philosophen und Philosophinnen geteilt. Eine komplexere Sicht im Überblick findet sich z. B.
schon in Passmore 1967 und bei Heiner Rutte in seinem Artikel „Ethik und Werturteilsproblematik
im Wiener Kreis“ ( 1986 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441