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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
160 29 f. ) Und auch in „Überwindung“ drückt die Metaphysik ( und auch moralische Urteile )
keinen theoretischen Gehalt aus , sondern ein Lebensgefühl , die
Haltung , in der ein Mensch lebt , die gefühls- und willensmäßige Einstellung zur Umwelt ,
zu den Mitmenschen , zu den Aufgaben , an denen er sich betätigt , zu den Schicksalen , die er
erleidet. ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 105 f. ])
Dass sich das Lebensgefühl durch sich rasch verändernde Launen auszeichne , davon ist
nirgends die Rede. Es ist also fraglich , ob es in der Frage , ob in Werturteilen länger an-
dauernde oder kurzzeitige , launenhaftere Haltungen ausgedrückt werden , überhaupt eine
Entwicklung gab , auch wenn Carnap selbst später hier eine behauptete. Beide nonkog-
nitivistischen Positionen sind jedenfalls nur zwei Varianten des individualistischen Ex-
pressivismus-Präskriptivismus. Geändert hat sich in dieser amerikanischen Phase ( C3 ),
die sehr spät eintrat , nur Carnaps Bereitschaft , sich mit nonkognitiven Sprachen logisch
überhaupt näher zu beschäftigen.
5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Carnap stellte die wichtige Rolle von Werten und Moral ( in seinem Verständnis ) für das
Leben nie in Abrede. Er blieb zeit seines Lebens seinen ( moralischen ) Überzeugungen
treu und setzte auch entsprechende Handlungen. Die Bezüge können im Falle Carnaps
nicht auf das kulturelle Umfeld Wiens und die Wiener Spätaufklärung beschränkt wer-
den , hängen mit dieser in vielerlei Hinsicht
– gerade in den humanistischen Überzeugun-
gen – jedoch durchaus schon in Carnaps Anfängen zusammen.
Die Ansichten darüber , was Wissenschaft und Philosophie für die Moral leisten kön-
nen , unterlagen jedoch einem Wandel. Carnaps Hintergrund war zunächst die deutsche
Philosophie eines Neukantianismus , der Lebensphilosophie und der Phänomenologie.
Auch 1928 kommen im Aufbau Werte noch im Konstitutionssystem vor. Selbst die im-
mer stärker werdende Ablehnung der Metaphysik als philosophische Disziplin schloss
Wertphilosophie und normative Ethik noch nicht sogleich ein. Erst ab 1929 und im ver-
öffentlichten Werk ab 1931/32 wurden diese für eine wissenschaftliche Philosophie bedeu-
tungslos. Dieser Ausschluss wurde in variierenden zum Teil heftigen und polemischen
Formulierungen wiederholt. Eine genauere Beschäftigung damit , was jenseits des rein
Kognitiven an philosophischer Behandlung möglich wäre , unterblieb. Erst 1963 wandte
sich Carnap dem Thema noch einmal zu. Für Carnap hatten nun viele Wertsätze kogni-
tive Bedeutung. Er wollte sich jedoch nur mit den reinen Optativen befassen. Eine nicht-
normative inhaltliche Ethik blieb außen vor. Die grundlegenden Ansichten haben sich bei
Carnap jedoch nicht geändert. Für ihn blieb Moral ein individuelles Unternehmen. Ver-
bindliche Werte kann es , wo Naturalismus und übernatürliche Quellen abgelehnt wer-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441