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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
186 werden könne , die zum Kernbestand traditioneller Ethik zählen , will Menger gar nicht
behandeln. Menger enthält sich der Frage , was ungeachtet dessen , was gut genannt wird ,
gut sei , gänzlich. Wer ihn nun so verstehen würde , er behaupte „Gut ist , was gut genannt
wird“, habe ihn völlig missverstanden.240 Alles , was er für seine Arbeit voraussetzt , ist , wie
oben festgestellt , lediglich , dass gewisse Verhaltensweisen gut bzw. böse genannt werden.
( Menger 1934a [ 1997 , 91 ]) Menger sagt jedoch nicht ausdrücklich , die Frage nach der rich-
tigen Moral sei eine sinnlose , obgleich unklar bleibt , welchen Sinn diese Frage im Rah-
men seines Dezisionismus haben könnte.241
Wird bei Menger eine Moral als individuelles Unterfangen gesehen oder setzt sie eine
moralische Gemeinschaft im Bildungsprozess voraus ? Bei Menger findet sich nicht nur
ein methodischer Individualismus , sondern auch ein moralischer Individualismus , inso-
fern er moralische Entscheidungen als individuelle Entscheidungen ansieht. ( Obwohl
sein Modell auch für gemeinschaftliche Entscheidungen anwendbar wäre. ) Individuen
entscheiden sich für ein bestimmtes System moralischer Normen 1. Stufe und für Kon-
fliktregelungen 2. Stufe. In dieser Wahl sind die Individuen als frei Wählende gedacht.
6.4 Mengers Ethikverständnis
6.4.1 Mengers Haltung gegenüber normativer Ethik
Viele der herkömmlichen ethischen Themenstellungen lehnte Menger entschieden ab.242
In einem das Buch eröffnenden fiktiven Brief an einen Freund stellt er unmissverständ-
lich klar , worüber es in diesem Buch nicht gehen wird : Er werde ( 1 ) weder das Wesen von
Gut und Übel diskutieren , ( 2 ) noch eine Begründung moralischer Normen anstreben oder
( 3 ) ein bestimmtes Moralsystem als allgemeingültig vorschlagen oder befehlen , ( 4 ) auch
keine Methoden oder den Gegen stand der Ethik diskutieren.243 In den Aufgaben ( 1 )–( 3 )
könne die Philosophie nämlich nichts Brauchbares für die Moral leisten. Aufgabe ( 4 ) be-
trachtet er nicht als seine Aufgabe. ( Menger 1934a [ 1997 , 65–69 ])
240 Menger verweist jedoch wiederholt auf existenzialistische Positionen , z. B. in Menger ( 1994 , 96 ).
241 Entschiedener war hier Mengers Onkel Anton , der von 1874 bis 1899 an der Universität Wien Uni-
versitätsprofessor für Zivilprozessrecht war. Er vertrat 1905 in Neue Sittenlehre die Ansicht , es gebe
keine objektiven Tugenden und Laster , weshalb er eine Begründung des Rechts durch ein Naturrecht
ablehnte. Wobei der Kritik Kautskys insofern recht zu geben ist , Menger operiere in dieser Schrift
mit zwei Moralbegriffen. Zum einen sei für ihn jede Moral ein Produkt der jeweiligen Machtver-
hältnisse. Zum anderen würden die gesellschaftlichen Zustände jedoch an einem Ideal der „überlie-
ferten Sittlichkeit“ gemessen und moralisch bewertet. Kautsky formulierte dazu sehr treffend : „Die
‚ewigen‘ Gebote der Sittlichkeit , die er bei der Vordertür hinauswirft , weiß er bei der hinteren wie-
der hereinzuschmuggeln.“ ( Kautsky 1905 /06 , 82 )
242 Die Verwendung von „ethisch“ ist bei Menger jedoch nicht konsequent. Gelegentlich wird der Aus-
druck auch für „moralisch“ verwendet.
243 Vgl. auch Menger ( 1994 , 184 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441