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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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lungen. Sie befinden sich also nach Rickert’scher Terminologie auf der Ebene individu-
ell subjektiver Werte. Es wird nichts anderes ausgedrückt als persönliche Vorlieben etc.
Werden diese darüber hinaus nicht als länger andauernde Haltungen gesehen , landen wir
schließlich beim Ausdruck bloß persönlicher Launen.
5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 )
Im Aufbau und in Scheinprobleme handelt es sich um eine erkenntnistheoretische Metaphy-
sikkritik , die , wie wir gesehen haben , sich noch nicht auf Moral und Ethik erstreckt. Ob-
wohl die Ablehnung von Metaphysik Carnaps Werke durchzieht , gibt es zahlreiche Va-
riationen davon , was als „Metaphysik“ zu verstehen ist und deshalb in einer respektablen
wissenschaftlichen Philosophie keinen Platz finden kann. In den 1930er-Jahren wird die
Metaphysikkritik immer schärfer und umfassender. Setzte sie zunächst auf erkenntnisthe-
oretische Argumente , so war es nun eine , die sich auf die Logik , die durch die Entwick-
lung , die sie in den Jahrzehnten davor genommen hatte , „zu einem Werkzeug von hinrei-
chender Schärfe geworden“ sei ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 82 ]). Nun scheinen noch schärfere
Trennungen und Schnitte möglich. Gleichzeitig erweitert sich der Kreis der Metaphysi-
kerinnen und Metaphysiker in der Wiener Zeit derart , dass nicht nur Wittgenstein , son-
dern selbst Mitglieder des Kreises wie Schlick oder Waismann der verkappten Metaphy-
sik bezichtigt wurden. Und obwohl Carnap später vieles wieder abschwächte , so sah er
doch stets als ein Grundübel , wenn Philosophie sich nicht von Metaphysik distanzier-
te. ( Mormann 2000 , 63 , 71 ) Metaphysik lag für ihn immer da vor , wo ein gewisses Ge-
fühl oder eine Einstellung zur Welt in pseudotheoretischer Verkleidung auftritt. ( Carnap
1963a [ 1993 , 67 ]) Was unter dieses Verdikt fällt und mit welcher genaueren Begründung ,
das unterlag jedoch Veränderungen. Neurath kritisierte auch Carnaps Thesen des Öfteren
als metaphysikhaltig , „weil sie ‚zu logisch‘ und ‚zu präzise‘ und deshalb pseudorationalis-
tisch seien“ ( Mormann 2000 , 78 ).
Ab 1931 waren nun auch in einem veröffentlichten Werk Wert- und Normsätze vom Me-
taphysikverdikt betroffen , wenn sie in der Ethik als theoretische Sätze auftreten. Seit „Über-
windung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( Carnap 1931/32 ) wird Wert-
philosophie und Normwissenschaft als metaphysisch disqualifiziert ( Mormann 2006 , 184 ):
Auf dem Gebiet der Metaphysik ( einschließlich aller Wertphilosophie und Normwissen-
schaft ) führt die logische Analyse zu dem negativen Ergebnis , daß die vorgeblichen Sätze die-
ses Gebietes gänzlich sinnlos sind. Damit ist eine radikale Überwindung der Metaphysik er-
reicht , [ … ]. ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 81 ])
Was die erkenntnistheoretische Metaphysikkritik noch offen gelassen hatte , stellt die lo-
gische Metaphysikkritik nun klar : Moralische Wert- und Normsätze , die als theoretische
auftreten ( in Wertphilosophie und Normwissenschaft ist dies nach Carnap der Fall ), sind
( in dieser theoretischen Form ) gänzlich sinnlos.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441