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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben
182 griffen ab. ( Menger 1934a [ 1997 , 93 ]) Auch in seinen Erinnerungen kommt er auf diese
Thematik noch einmal zu sprechen :
While the circle in 1934 was still indulging in a great deal of ill-defined talk about meaning-
ful and meaningless , I strictly observed my maxim , Assert or don’t assert or say that you will not
assert. In particular , I explicitly stated in the booklet that I would not call any sentence about
good or evil meaningless. ( Menger 1994 , 185 )
Menger nennt keinen moralischen Satz sinnlos. Aber auch nicht sinnvoll ! Selbst am Hö-
hepunkt des Carnap’schen Ausschlusses moralischer und normativ-ethischer Sätze aus
dem Bereich des Sinnvollen war dies nicht allgemein geteilte Meinung des Kreises , sofern
wir Menger zu jener Zeit noch zum Kreis zählen dürfen. Menger nimmt in dieser Hin-
sicht eine neutrale Haltung ein.
6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und
systemimmanenter Kognitivismus
Ist nach Mengers Moralauffassung moralische Erkenntnis möglich ? Als eine seiner
Hauptabsichten verfolgt Menger in Moral , Wille und Weltgestaltung , „in der Moral den
Verstand in seine Schranken zu verweisen“. An Stelle „vorgeblicher Resultate verstandes-
mäßiger Überlegungen , die logischer Kritik nicht standhalten“, wollte er „die willens-
mäßige Grundlage [ moralischer Normen ; A. S. ] bloßlegen“ ( Menger 1934a [ 1997 , 210 ]).
Hier geht es zunächst darum , auf welcher Grundlage die Imperativsysteme gewählt
werden , nicht um deren sprachphilosophische Analyse. Dies kann nach Menger nicht auf
der Grundlage von Erkenntnis geschehen. Sich für ein bestimmtes Normensystem zu er-
klären , sei eine Stellungnahme aufgrund des Gefühls , des Geschmacks oder des Wollens.
Eine Wahl zwischen den Ideen und der Gestaltung der Welt zu treffen , sei mithin ein
Willkürakt , ein Entschluss. ( Menger 1934a [ 1997 , 109 ff. ]) Selbst wenn noch so viele oder
gar alle übereinstimmten , dürfe dies nicht darüber hinweg täuschen , dass es sich um Ge-
schmacksurteile und Entschlüsse handle :
Den tiefsten Grund der Stellungnahme bildet nicht eine Einsicht , sondern eine Willensent-
scheidung ; nicht ein Erkennen , sondern ein Wollen. ( Menger 1934a [ 1997 , 112 ])
Die Wahl moralischer Normen fällt für Menger nicht in den Bereich des Kognitiven und
der Erkenntnis , obwohl in der Vorbereitung und als Basis einer moralischen Stellungnah-
me und eines moralischen Entschlusses Erkenntnis durchaus wichtig sei. ( Menger 1934a
[ 1997 , 109 ])
Menger vertritt in der Frage der Fundierung eines moralischen Normensystems einen
erkenntnistheoretischen fundamentalen Nonkognitivismus , und zwar eine Form des non-
kognitivistischen Dezisionismus. Die Wahl eines Normensystems basiert auf einem Wil-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441