Seite - 136 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
136 Carnap selbst sah diese Phase seiner Philosophie später kritisch , wobei er mit „wir“ nur
jene Mitglieder des Kreises meinen konnte , die seine Meinung teilten , keineswegs alle :
Im Wiener Kreis formulierten wir leider , mit Wittgenstein , unsere Auffassung in der über-
vereinfachten Fassung , gewisse metaphysische Thesen seien „sinnlos“. Diese Formulierung
rief viel unnötigen Widerstand hervor , selbst bei solchen Philosophen , die im Grund einer
Meinung mit uns waren. Erst später erkannten wir , daß es wichtig ist , die verschiedenen Be-
deutungskomponenten auseinander zu halten , und deshalb sagten wir dann genauer , daß sol-
che Thesen ohne kognitive oder theoretische Bedeutung sind. Oft haben sie andere Bedeu-
tungskomponenten , beispielsweise gefühlsmäßige oder stimmungsmäßige , die , auch wenn
sie nicht kognitiv sind , starke psychologische Wirkungen haben. ( Carnap 1963a [ 1993 , 70 ])
„Gewisse“ metaphysische Thesen waren also nicht gänzlich sinnlos , sondern nur kognitiv
sinnlos. Dabei blieb es bei Carnap jedoch. Wert- und Normsätze , die nicht in theoreti-
scher Verkleidung auftraten , waren dennoch damals nicht metaphysisch.184
5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 )
Noch vor Ayers Language , Truth and Logic erschien 1935 in London das kleine Büchlein
Philosophy and Logical Syntax , das den Inhalt dreier Vorträge Carnaps wiedergibt , die er
im Oktober 1934 an der University of London gehalten hatte.185 Es soll die philosophische
Methode , die „wir , der Wiener Kreis“ benutzen , vorstellen. ( Carnap 1935 , 7 ) Damit meint
Carnap die syntaktische Analyse der Wissenschaftssprache. Da sich das Buch an einen
allgemeinen Leserkreis richtet , wird für präzisere Formulierungen auf Logische Syntax der
Sprache ( 1934b ) verwiesen. ( Carnap 1935 , 8 )186
Das erste Kapitel umfasst einen eigenen Abschnitt über Ethik als wichtigsten Zweig
der Wertphilosophie.187 Darin sieht Carnap nur einen Unterschied in der Formulierung ,
ob jemand eine Norm aufstellt oder ein Werturteil abgibt. „Do not kill“ korrespondiere
„Killing is evil“. Auch letztere Formulierung sei lediglich der Ausdruck eines bestimm-
184 1934 hielt Carnap auch den Vortrag „Über den Charakter philosophischer Probleme“. Leider verzich-
tet er dort ausdrücklich , auf Moral und Ethik einzugehen. Im Sommersemester 1934 hielt Carnap
in der Urania zudem einen Vortrag zum Thema „Woher wissen wir , was gut und böse ist ?“. ( Stadler
1997a , 673 )
185 Eingeladen wurde Carnap zu diesen Vorträgen von Stebbing. Sie hielt er „in dankbarer Erinnerung
und Wertschätzung“. Hinweise auf interessante Diskussionen mit ihr gibt Carnap keine , ganz im Un-
terschied zu Gesprächen mit Russell , Charles Kay Ogden , Ayer und Richard B. Braithwaite , die er
erwähnt. Sie alle hätten sich für Physikalismus und logische Syntax interessiert , was aber wohl auch
auf Stebbing zutraf. ( Carnap 1963a [ 1993 , 53 ])
186 Robert Musil überlegte , ob er Logische Syntax der Sprache ( ironischerweise ) als Buch des Jahres vor-
schlagen sollte. ( Carus 2007a , 64 , Fn. 15 )
187 Die drei Kapitel tragen die Titel „The Rejection of Metaphysics“, „Logical Syntax of Language“ und
„Syntax as the Method of Philosophy“.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441