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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
270 9.2.2 Lebensweisheit ( 1908 ): eine evolutionistische Ethik ?350
9.2.2.1 Einleitung
Mit dem Buch Lebensweisheit begann Schlicks öffentliches Nachdenken über Ethik und
Moral. Es wurde im Herbst 1907 , vordatiert auf 1908 ,351 im Verlag C. H. Beck unter dem
Gesamttitel Lebensweisheit : Versuch einer Glückseligkeitslehre veröffentlicht.352 Wer Schlicks
Ethik aus der Wiener-Kreis-Periode verstehen will , kommt nicht umhin , sich mit diesem
Werk zu befassen , das bei allen Diskontinuitäten den Grundton der späteren Schriften
angibt und Brüche darin erst verständlich werden lässt.
Die Nähe zu Nietzsche machte Schlick selbst im Ankündigungstext seiner ersten Pu-
blikation klar , in dem es heißt :
Jedes Menschen Ziel ist Glückseligkeit. Zunächst scheint es , als fließe dieser Begriff ohne jede
Grenze , er wird aber sogleich fest und bestimmt , wenn wir ihn erklären als die Erfüllung der
allgemein menschlichen Anlagen , als die Befriedigung der allgemein menschlichen Triebe. Die-
se Erfüllung nun ist abhängig von den gegebenen Bedingungen der menschlichen Natur und
des sozialen Lebens , daher muß eine fruchtbare Lebensphilosophie vor allem sie in ihren Zu-
sammenhängen und Wirkungen untersuchen. Damit beginnt auch dieses Buch , indem es –
[ … ] – uns die gegenwärtigen menschlichen und allzumenschlichen Zustände in allen ih-
ren zivilisatorischen und kulturellen Formen begreifen lehrt ; dann aber führt es uns auf den
Wegen der bisherigen Entwicklung über die Gegenwart hinaus zu künftigen vollkommene-
ren , glücklicheren Daseinsformen , es zeigt uns überraschende , leuchtende Aussichten , bei de-
nen uns das Nietzschewort berührt : Ich will dir das Herz schwer machen mit meinem Glü-
cke. ( zit. n. Iven 2008a , 182 f. )
Stilistisch haftet nicht nur dem Ankündigungstext , sondern dem Werk insgesamt unver-
kennbar ein Hang zum Pathetischen an , und auffallend häufig bedient sich Schlick ei-
ner metaphorischen Ausdrucksweise. Beides dürfte eben nicht zuletzt dem Umstand ge-
schuldet sein , dass die Lebensweisheit unter der andauernden Faszination von Nietzsches
Zarathustra entstanden war.
Inhaltlich handelt es sich um ein äußerst umfangreiches Werk über das Glück , das all-
gemeine Gute und über Moral im Sinne einer allgemeinen Lebensgestaltung. Der ers-
te Abschnitt befasst sich mit dem Willen zum Glück und legt Schlicks Auffassung von
Glück und Lust dar. Der zweite trägt die Überschrift „Der Mensch mit sich selbst“ und
350 Teile des Abschnitts 9. 2. 2 sind in einer früheren Version als Siegetsleitner 2008 erschienen.
351 Siehe Iven ( 2006b , 35 ).
352 Das Buch wurde u. a. von Wilhelm Ostwald besprochen ( Ostwald 1908 ). Er lobt Schlicks optimisti-
sche Haltung , obwohl er die Natur zu sehr als ein bewusst wollendes Wesen dargestellt sieht. ( Iven
2008a , 184 f. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441