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1.2 Der Wiener Kreis
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rung hinzugefügt ist , werde ich „Wiener Kreis“ im Sinne des historischen Schlick-Zirkels
zwischen 1924 und 1936 gebrauchen. Soweit ich spätere Arbeiten heranziehe , geht es mir
nicht um einen „Wiener Kreis im Exil“, sondern um die Weiterverfolgung der Beiträge
ehemaliger Mitglieder des historischen Wiener Kreises.13
1.2.3 Der Wiener Kreis als philosophische Schule ?
Im Unterschied zur Frankfurter Schule handelte es sich beim Wiener Kreis um keine
dauernde Arbeitsgemeinschaft. ( Dahms 1994 , 29 ) Schlick und Waismann waren gegen-
über allem Schulmäßigen und dem Versuch einer Breitenwirkung ohnehin sehr misstrau-
isch. ( Bergmann 1936 [ 2006 , 644 ]) Auch laut Kraft war der Wiener Kreis so lebendig ,
dass er gar nicht auf eine bestimmte Doktrin festgelegt werden könne. ( Kraft in Rut-
te / Acham / Götschl / Payer 1973 , 17 ) Von einer Wiener Schule in diesem Sinne wird des-
wegen auch kaum mehr gesprochen , obgleich sich nicht von der Hand weisen lässt , dass
Metaphysikkritik , ein verifikationistisches Sinnkriterium und die Idee einer Einheitswis-
senschaft ( Stichwort „Physikalismus“ ) für den Wiener Kreis und den Logischen Empi-
rismus eine zentrale Rolle spielten.
Doch schon im Wiener Kreis gingen beispielsweise die Auffassungen darüber , was Me-
taphysik sei , weit auseinander. Insgesamt war Metaphysikkritik nichts Neues. Schon sieb-
zig Jahre vor dem Wiener Kreis hatte Nietzsche den „Ort oder Un-Ort ( Utopia ) der Me-
taphysik“ ( Hochkeppel 1993 , 153 ) beinahe wörtlich so bestimmt wie jener :
Das Reich der Metaphysik , somit die Provinz der „absoluten“ Wahrheit ist unweigerlich in
eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden [ … ] Metaphysik gehört also bei eini-
gen Menschen ins Gebiet der Gemüthsbedürfnisse , ist wesentlich Erbauung : andererseits
ist sie Kunst , nämlich die der Begriffsdichtung ; festzuhalten ist aber , daß Metaphysik weder
als Religion noch als Kunst etwas mit dem sogenannten „An sich Wahren oder Seienden“
zu thun hat. ( Friedrich Nietzsche an Hermann Mushacke , April / Mai 1868 , zit. n. Hoch-
keppel 1993 , 153 )14
Im Lauf der Zeit änderten sich selbst bei ein und demselben Wiener-Kreis-Mitglied
die Auffassungen , was unter Metaphysik zu verstehen sei , wie Thomas Mormann dar-
legt. Lediglich die Ansicht , die traditionelle metaphysische Philosophie leiste dem po-
litischen Obskurantismus und der Gegenaufklärung Vorschub , wurde von einem gro-
13 Zur Zeit des Wiener Kreises gab es in Wien eine Unzahl von Kreisen : künstlerische , politische , wis-
senschaftliche und auch mehrere philosophische. Es gab u. a. welche zu Kant , Kierkegaard und Tols-
toi , der , so Menger ( 1994 , 17 ), auch in Wien einen enormen Einfluss ausübte. Nicht zuletzt Wittgen-
stein ließ sich von dessen Ideen begeistern. Für einige Mitglieder des Wiener Kreises war auch der
Kreis um Heinrich Gomperz äußerst wichtig.
14 Nietzsche wurde übrigens von vielen Mitgliedern des Wiener Kreises hoch geschätzt. Siehe dazu Fi-
scher 1991b.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441