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12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen
404 Wie bereits oben erwähnt , muss diese moralische Position nicht notwen digerweise mit
entsprechenden Aktivitäten einhergehen. Bejaht von allen , wird sie nur von einigen tat-
kräftig gefördert. Das Engagement muss zudem kein politisches im Sinne eines institutio-
nellen , „öffentlichen“ sein. Erst „wissenschaftliche Weltauffassung“ im umfassenden Sinne
schließt über die Moral hinaus eine Positionierung hinsichtlich der Politik als einer insti-
tutionellen , „öffentlichen“ Gesellschaftsgestaltung mit ein. Hierbei gilt es , zumindest zwei
Varianten zu unterscheiden : eine sozialistische und eine bürgerlich sozial-liberale Variante.
Selbst jene Mitglieder , die eine politische Positionierung mit der wissen schaftlichen Welt-
auffassung verbanden , waren hinsichtlich deren Ausprägung uneins. Trotz gemeinsamer
moralischer Haltung waren nicht alle Sozia listinnen oder Sozialisten , wenngleich die meis-
ten Autoren der Programmschrift dies sehr wohl waren , am allermeisten Neurath. Vor al-
lem im abschließenden Ausblick wird die wissenschaftliche Weltauffassung mit einer sozi-
alistischen Einstellung und sozialistischem Engagement verbunden. Im selben Sinne meint
Carnap in seiner Autobiographie , die großen Probleme der Wirtschaftsorganisation be-
dürften im Sinne eines wissenschaftlichen Humanismus eines Sozialismus. ( Carnap 1963a
[ 1993 , 130 f. ]) Carnap hatte diese moralisch-politische Überzeugung , die er zeit seines Le-
bens beibehielt , im Übrigen bereits nach Wien mitgebracht. Für Schlick umfasste die wis-
senschaftliche Weltauffassung eine moralische , aber keine politische Ausrichtung , obwohl
er ein Liberaler war und die Programmschrift auch den Liberalismus würdigt. Das gesell-
schaftliche und kulturelle Klima im Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts , das
durch den Liberalismus geprägt war , wird in ihr „als besonders geeigneter Boden“ für die
Entwicklung der wissenschaftlichen Weltauffassung präsentiert. ( Neurath / Hahn / Carnap
1929 [ 2006 , 6 ]) Schlick verstand den Ausdruck „wissenschaftliche Weltauffassung“ also in
seiner weiteren Bedeutung , die zwar den wissenschaftlichen Humanismus als moralische
Haltung einschließt , jedoch noch keine politische Position. Er lehnte deshalb die ihm ge-
widmete Programmschrift ( siehe u. a. Neider 1973 , 49 ) in jenen Teilen ab , in denen die wis-
senschaftliche Weltauffassung in einen Zusammenhang mit politischen Bestrebungen ge-
bracht wurde. Die Haltung des wissenschaftlichen Humanismus und das Streben mancher
Mitglieder des Wiener Kreises nach einer Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne dieser
Haltung sind jedenfalls nicht nur mit einem politischen Programm vereinbar.
12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen
12.3.1 Individuelles vs. gemeinsames Unternehmen
Trotz geteilter inhaltlicher Ausrichtung hatten die Mitglieder keine gemeinsame Position
in der Frage , ob es sich bei einer Moral um ein individuelles oder ein gemeinsames Un-
ternehmen handelt.
Für Carnap war Moral eindeutig ein rein individuelles Unterfangen. Moral ist bei ihm
nicht Sache einer Pluralität von moralischen Akteurinnen und Akteuren und daher keine
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441