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10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode
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Wenn nun die Begründung einer altruistischen Moral tautologisch erscheint , so scheint mir
ihr Wert doch immer noch darin zu liegen , dass damit deren Voraussetzungen deutlich auf-
gewiesen werden. ( Kraft 1942 , 155 )512
Der Aufsatz von 1940 war ein Fehlschlag , den Kraft selbst eingesehen hat.
Nichtsdestoweniger ließ die Idee einer rationalen Moralbegründung , d. h. ausschließ-
lich mit Gründen , die ein rationaler Mensch nicht ablehnen kann ,513 Kraft selbst nach
diesem eingestandenen Fehlschlag nicht los. Die Rezeption seiner Ethik wurde vor al-
lem durch die späteren Arbeiten geprägt , sodass hier ein Überblick über diese nötig ist ,
um die Unterschiede zur Moralbegründung in seiner Wiener-Kreis-Periode verdeutli-
chen zu können.
10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der
Wiener-Kreis-Periode
10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer
wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 )
Einen weiteren Versuch der Moralbegründung unternimmt Kraft bereits in seiner Einfüh-
rung in die Philosophie ( 1950a ; im Folgenden : Einführung ) und in der zweiten Auflage der
Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre ( 1951 ). In beiden Arbeiten steht nun für die
Moralbegründung die Kultur im Mittelpunkt. Ich werde meinen Fokus hier auf die zwei-
te Auflage der Wertlehre richten und die Einführung wo angebracht zur Ergänzung her-
anziehen. Die Kultur-Begründung wird oft irrtümlicherweise bereits auf 1937 datiert , weil
ein eingehender Vergleich der ersten und zweiten Auflage unterbleibt.
Worin sein Anliegen besteht , hebt Kraft im Vorwort zur 2. Auflage der Wertlehre noch
einmal hervor : Es gehe darum aufzuzeigen , dass aus der Ablehnung eines Wertabsolu-
tismus nicht zwangsläufig ein individualistischer Relativismus folge. Wir haben demnach
512 Darüber hinaus enthält der Aufsatz von 1940 eine klare Absage an eine religiöse Moralbegründung.
513 Julian Nida-Rümelin geht deshalb in seinem Beitrag „Rationale Ethik“ kurz auf Kraft als Vorläu-
fer gegenwärtiger rationaler Ethikerinnen und Ethiker ein. Als rationale Ethik gilt ihm jede Ethik ,
in der die These „Wer unmoralisch handelt , der handelt irrational“ wahr ist. Dabei bezieht er sich je-
doch ausschließlich auf die kulturbedingte Begründung in der 2. Auflage der Wertlehre. Nicht halt-
bar ist angesichts der in dieser Untersuchung vorgelegten Interpretation der Schlick’schen Ethik die
Behauptung , Kraft sei „der erste zum logischen Empirismus zählende Denker , der die auf dem ve-
rifikationistischen Sinnkriterium beruhende Einstufung von moralisch wertenden Äußerungen als
Pseudoaussagen zurückwies und eine Theorie normativer Ethik entwickelt hat“ ( Nida-Rümelin 1992 ,
158 ). Kraft wies die Einstufung moralisch wertender Äußerungen als Pseudoaussagen nicht weniger
zurück als Schlick , und auch Schlick betrieb normative Ethik , wenn auch theoretisch weniger durch-
dacht als Kraft.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441