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7. Otto Neurath : Moral
220 Letztlich könne die proletarisch-sozialistische Weltanschauung den Menschen alles
geben , was sie bisher nur in einer Religion zu finden meinen. Sie
ist umfassend genug , um eines Menschen ganzes Fühlen , Denken , Streben zu umspannen.
Innerhalb der Arbeiterbewegung und der kommenden sozialistischen Gemeinschaft kann
ein Mensch seine Sehnsucht nach Hingabe an Überindividuelles , nach Liebe , nach Freu-
de an Massenerfolgen befriedigen , ohne dazu religiöser Gesinnung zu benötigen. ( Neurath
1928 [ 1981a , 270 ])
Neuraths Moral , auch wenn er sie selbst zu diesem Zeitpunkt möglicherweise nicht so
nennen würde , ist ein humanistischer , sozialer Eudämonismus auf Grundlage eines ge-
meinsamen Entschlusses , der den Weg der Verwirklichung in der Veränderung gesell-
schaftlicher Strukturen sieht und nicht an eine einheitliche Rechengröße glaubt. Wie bei
Epikur kann für eine solche Moral auf göttliche Instanzen verzichtet werden. Diese mo-
ralischen , ethischen und politischen Ansichten wird Neurath nicht mehr ändern.296
7.3.3 Wissenschaftliche Weltauffassung , Moral und Politik :
Die Programmschrift ( 1929 )
Carnap schreibt in seiner Intellektuellen Autobiografie :
Wir [ … ] verteidigten das Recht , objektiv und wissenschaftlich alle Erscheinungen oder an-
geblichen Erscheinungen zu überprüfen , ohne Rücksicht auf die Frage , ob andere die Ergeb-
nisse gebrauchen oder mißbrauchen würden. ( Carnap 1963a [ 1993 , 37 ])
Doch selbst von Carnap und berechtigterweise ausdrücklich ausgenommen aus diesem
„Carnap-Wir“ war Neurath. Deshalb kann Carnaps Wir-Position keineswegs als die Posi-
tion des Kreises gelten. Denn wie nicht nur Carnap mitteilt , brachte Neurath meist mehr
pragmatisch-politische Argumente zur Erwünschtheit oder Unerwünschtheit bestimmter
logischer oder empirischer Untersuchungen bei als theoretische. Die neutralistische Hal-
tung half seiner Meinung nach vielmehr den Feinden des sozialen Fortschritts :
Neurath hielt nichts von diesen Zweifeln und Warnungen. Er verhöhnte die puristischen
Philosophen , die in ihrem Elfenbeinturm säßen und Angst davor hätten , sich die Hände
schmutzig zu machen , wenn sie herunterkommen und die praktischen Probleme der Welt
anpacken müßten. ( Carnap 1963a [ 1993 , 37 ])
296 So führt Neurath beispielsweise 1937 im gleichen Heft , in dem Horkheimers „Angriff“ erschien , sein
Lebenslagenkonzept , das ich bereits oben in seinen Grundzügen darstellte , weiter aus ( vgl. Neurath
1937b ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441