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7. Otto Neurath : Moral
226 Erst in der historischen Aufarbeitung im österreichischen kulturellen Kontext wurde die
politische Dimension in der Philosophie wieder wahrgenommen. Verstärkt auch durch die
Wiederentdeckung Neuraths , wodurch gleichwohl vor allem die sozialistische Variante in
den Fokus rückte. Noch mehr gilt das Vergessen für die moralische Dimension , die den
Wiener Kreis einte. Selbst dort , wo in der Charakterisierung des Wiener Kreises über die
neutralen philosophischen Positionen hinausgegangen wird , überdeckt bislang die politi-
sche Dimension die moralische.
Die wissenschaftliche Weltauffassung im weiteren ( Bedeutung 2 ) und umfassenden
Sinne ( Bedeutung 3 ) ist nicht auf Wissenschaft beschränkt. Es handelt sich um eine Welt-
auffassung , die im Unterschied zu einer metaphysischen Weltanschauung in ihren erklä-
rungs- , begründungs- und handlungsrelevanten Bereichen keine Entitäten und Prinzipi-
en zulässt , die Menschen nicht zugänglich und menschlicher Gestaltung entzogen sind.
Wesenheiten und Prinzipien solcher Art hält sie für überflüssig ,300 nicht nur in der Wis-
senschaft , sondern auch in weiteren Bereichen menschlicher Lebenspraxis , nicht zuletzt
der Moral mit ihren Lebensgrundsätzen.
Soweit zur Konzeption und der Rolle von Moral in der wissenschaftlichen Weltauffas-
sung. Ich komme nun zu Neuraths Ethikverständnis in dieser Periode.
7.3.4 Ethik im Rahmen der Einheitswissenschaft
Wie ist Ethik im Rahmen der Einheitswissenschaft möglich ? Dies ist eine Frage , die
Neurath von Anfang der 1930er-Jahre bis hin zu seinem Tod beschäftigen sollte. Es wur-
de zwar nie Hauptuntersuchungsgegen stand einer Schrift , doch behandelte er diese Fra-
ge en passant immer wieder.
7.3.4.1 Einheitswissenschaft , Physikalismus und Enzyklopädismus
Im Rahmen des Projektes „Einheitswissenschaft“ wurde im Wiener Kreis und von weite-
ren Logischen Empiristinnen und Empiristen untersucht , inwiefern ganz unterschiedliche
und weit auseinander liegende Bereiche wissenschaftlicher Theoriebildung miteinander in
Zusammenhang gebracht werden können. Neurath und Zilsel dachten hier insbesondere
auch an die Sozialwissenschaften. In der Programmschrift heißt es diesbezüglich :
Das Bestreben geht dahin , die Leistungen der einzelnen Forscher auf den verschiedenen Wis-
sensgebieten in Verbindung und Einklang miteinander zu bringen. ( Neurath / Hahn / Carnap
1929 [ 2006 , 11 ])
Diese Verbindung wurde von keinem im Wiener Kreis je so verstanden , „das System“ der
Wissenschaften zu konstruieren. Carnap sah diese Verbindung ursprünglich jedoch sehr
300 Siehe hierzu auch Hahns Überflüssige Wesenheiten. Occams Rasiermesser. Die christlich-soziale Reichs-
post bezeichnete den Vortrag als „Freidenkerpropaganda an der Universität“. ( Nemeth 1994 , 117 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441