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12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen
406 gebe es in dieser Einschätzung von Gesellschaft zu Gesellschaft so manche Abweichung ,
doch würden Hilfsbereitschaft , Zuverlässigkeit und Verträglichkeit überall positiv bewer-
tet. Schlicks zweite Moralauffassung betrifft nur eine individuelle Lebensorientierung , die
durch die gesellschaftliche Moral aller Wahrscheinlichkeit nach unterstützt wird. Wo es
um die Beurteilung gesellschaftlicher und kultureller Institutionen geht wie in Natur und
Kultur , steht die gesellschaftliche Konzeption klar im Vordergrund.
Bei Kraft ist wie bei Frank jede Moral ein gemeinsames Unterfangen , denn der mora-
lische Standpunkt kann nur ein gemeinsamer sein. Von ihm aus wird wie in anderen all-
gemeingültigen Urteilen von einem überindividuellen Standpunkt aus gewertet. Auf der
Basis eines gemeinsamen Begriffs des moralisch Guten , der immer auch eine Sachkom-
ponente enthält , ist sodann eine Verständigung über moralische Fragen möglich. Feigl
sieht dies ebenso.
Wo die Moral als gemeinsames Unternehmen gesehen wird , deren geteilte Wertbe-
griffe eine Sachkomponente aufweisen , dort sind überindividuell verbindliche moralische
Urteile relativ zu den geteilten moralischen Maßstäben und ein rationaler Moraldiskurs
möglich. Von einem extremen Nonkognitivismus kann dort nicht mehr die Rede sein.
12.3.2 Sprachphilosophische , erkenntnistheoretische und ontologische Positionen
Entgegen der Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik wird in den Beiträgen der
Wiener-Kreis-Mitglieder nicht nur ein sprachphilosophischer individualistischer Expres-
sivismus und / oder Präskriptivismus vertreten , mit denen ein semantischer Nonkogniti-
vismus verbunden ist. Zwar vertritt niemand der hier unter suchten Mitglieder einen rei-
nen Deskriptivismus , doch bleibt noch eine Reihe von sprachphilosophischen Varianten
offen. Ebenso wenig findet sich bei allen ein erkenntnistheoretischer Nonkognitivismus ,
wobei Carnap in seiner Wiener-Kreis-Periode der Standardauffassung logisch-empiristi-
scher Ethik am nächsten liegt.
Bei Carnap sehen wir nämlich spätestens 1929 nichts mehr von seinem sprach-
philosophischen und erkenntnistheoretischen Kognitivismus mit neukantianischen und
hegelianischen Zügen aus früheren Werken. Zwar hatte er 1928 im Aufbau noch vieles of-
fen gelassen und Werte waren darin als Teil seines Konstitutionssystems vorgesehen , doch
zeigten sich bereits dort Schwierigkeiten , Werte in dieses System einzufügen. Verschie-
dene Formen des Kognitivismus wären mit diesem noch verträglich gewesen. Eben sol-
ches gilt für die Schrift Scheinprobleme , die im selben Jahr erschien und in der sich eine
erste Form eines radikalen Sinnkriteriums findet. Moralische und ethische Sätze können
diesem gemäß nur theoretisch sinnvoll sein , wenn sie sachhaltig sind. Ob dies für morali-
sche Sätze zutrifft , wird in dieser Schrift jedoch nicht beantwortet. Dies ändert sich 1929.
Im Vorbereitungsmanuskript für den Vortrag „Wissenschaft und Leben“, den Carnap im
Bauhaus in Dessau hielt , wird nun eine strenge Trennung zwischen Tatsachen und Werten
eingeführt. Ab nun ist Carnap bezüglich moralischer Sätze der expressivistisch-präskripti-
vistischen Position zuzuordnen. Er behauptet in seiner Wiener-Kreis-Periode : ( 1 ) Mora-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441