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3.3 Die Rezeption in der Analytischen Philosophie
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Was das Moralverständnis betrifft , ist historisch bemerkenswert , dass Horkheimers ei-
gene Position , wie er sie in „Materialismus und Moral“ äußert , der einiger Wiener-Kreis-
Mitglieder im Übrigen sehr nahe kommt , wie auch Dahms zu Recht bemerkte. ( Dahms
1994 , 117 ) Es gehe in der Moral um die Mehrung des menschlichen Glücks , womit er
nicht nur ganz auf der Linie eines Schlick’schen und Neurath’schen Eudämonismus liegt ,
sondern , wie ich noch zeigen werde , mit allen Wiener-Kreis-Mitgliedern übereinstimmt.
Dieses Streben der Menschen nach Glück sei auch laut Horkheimer keiner weiteren
Rechtfertigung bedürftig , womit er selbst einen erkenntnistheorischen dezisionistischen
Standpunkt vertritt , den er im „Angriff“ als inadäquat zurückweist : Die Moral könne nicht
bewiesen werden , brauche dies aber auch nicht. ( Horkheimer 1933 ) Wobei Horkheimer
in diesem Dezisionismus gar nicht mehr alle Wiener-Kreis-Mitglieder gefolgt wären. Es
zeigt sich jedoch , dass die Bruchlinie zwischen Frankfurter Schule und Wiener Kreis auf
dem Gebiet der Ethik de facto nicht in der Frage Dezisionismus oder nicht verläuft.
3.3 Die Rezeption in der Analytischen Philosophie
Doch selbst in der Analytischen Philosophie , die den Logischen Empirismus zu ihren
Wurzeln zählt , ist ein apolitisches , ja amoralisches und von einer normativ enthaltsamen
logisch-empiristischen Ethik gezeichnetes Bild des Logischen Empirismus und mit ihm
des Wiener Kreises lang gepflegte Tradition.
Auch wenn zunehmend wieder in Erinnerung gerufen wird , dass den Mitgliedern des
Wiener Kreises Moral und Ethik persönlich wichtig waren , wie ich im nächsten Kapi-
tel genauer ausführen werde , und somit die Ansicht vom mangelnden Desinteresse in der
ersten Variante widerlegt ist , bleibt damit die Frage offen , ob diese Ansicht in der zwei-
ten Variante , die sich auf das fachliche Interesse bezieht , falsch ist. Die wissenschaftliche
Arbeit selbst muss sich ja trotz moralischen , gesellschaftspolitischen oder politischen En-
gagements nicht mit Moral und Ethik befassen. Moral muss , wenn auch für die fachli-
che Arbeit als Philosophinnen und Philosophen bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler , so nicht in dieser von Interesse sein. Wertbildung geschehe in der Praxis , nicht
in philosophischen Analysen , so gab auch Reichenbach – Logischer Empirist Berliner
Couleur – zu verstehen :
Wer heute über den Sinn des Daseins etwas sagen will , der hüte sich vor Begriffsanalysen ;
er gehe als Angestellter oder Arbeiter in die Fabriken oder als Lehrer in die Schule oder als
Arzt unter die Kranken oder als Mitkämpfer in soziale Bewegungen
– dann hat er zur Wert-
bildung unseres Zeitalters etwas zu sagen. Aber er verzichte auf rationale Konstruktionen –
die überlasse er dem theoretischen Denken , der wertfreien Erforschung der Sachverhalte , in
der allein wissenschaftliche Philosophie bestehen kann. ( Reichenbach 1931 [ 2011 , 91 ])
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441