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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
120 längst im Wiener Kreis angekommen war“ ( Stöltzner / Uebel 2006b , XXXVIII ). Eine Me-
taphysikkritik findet sich nur in den zwei letzten Kapiteln des Aufbaus , wo auch eine Pro-
toformulierung des verifikationistischen Sinnkriteriums zu finden ist , aber :
It is true that in the last chapter of the Aufbau there is a protoformulation of the verification
criterion , but verificationism is foreign to the constitutional system [ … ]. ( Cirera 1994 , 33 )
Ansonsten ist das Werk ametaphysisch , nicht antimetaphysisch. ( Cirera 1994 , 33 ) Diese
verhaltene Metaphysikkritik hat im Aufbau jedenfalls noch nicht die Funktion , Wertbe-
griffe aus dem Begriffssystem der Erkenntnis auszuschließen. Verschiedene Formen des
Kognitivismus wären damit noch verträglich.
Das Werk endet mit einem Abschnitt , der den Schlusssatz des Tractatus kommentiert
und dem Werk Wittgensteins und seiner moralischen Haltung tiefsten Respekt zollt :
„Wir fühlen , daß selbst , wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind ,
unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage
mehr , und eben das ist die Antwort“ [ Abhandlg. ] 262. Leider ist diese Abhandlung fast un-
bekannt geblieben. Sie ist zwar teilweise schwer verständlich und ungenügend durchgeklärt ,
aber sehr wertvoll sowohl durch ihre logischen Ableitungen als auch durch die ethische Hal-
tung , die aus ihr spricht. ( Carnap 1928a , § 183 )
Auf den Einfluss Wittgensteins auf die Ethik Carnaps werde ich weiter unten eingehen.
Zunächst werde ich mich einem weiteren Werk aus dem Jahre 1928 zuwenden , das ei-
nen Übergang vom erkenntnistheoretischen Kognitivismus zum Nonkognitivismus bildet.
5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b )
Radikaler wird die Metaphysikkritik in Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ), wo sich
–
abgesehen von der kurzen Formulierung am Schluss des Aufbaus – eine erste Form eines
radikalen Sinnkriteriums findet , mit dessen Hilfe sich metaphysische von nichtmetaphy-
sischen Sätzen unterscheiden lassen sollten. ( Mormann 2000 , 68 f. ) Scheinprobleme wurde
im selben Jahr wie der Aufbau publiziert , doch war das Werk bereits im Wiener Umfeld
entstanden , wo sich Carnaps Metaphysikkritik radikalisierte.
Wie Mormann und andere betonen , wurde Carnaps Metaphysikkritik stark durch
die Lebensphilosophie Nietzsches geprägt.169 Das antimetaphysische Potenzial der schon
in Jena vorhandenen lebensphilosophischen Orientierung Carnaps wurde in Wien je-
doch noch durch eine spezifische Wiener Antimetaphysik verstärkt. Unter dem Einfluss
der antimetaphysischen Einstellung des Wiener Kreises und seines Umfeldes ( Wittgen-
169 “For Carnap , Frege’s Begriffsschrift lies on the desk , so to speak , and Nietzsche’s Zarathustra on the
bedside table.” ( Gabriel 2004 , 12 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441