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332 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und
rationale Moralbegründung
10.1 Einleitung
Victor Kraft 447 ( 1880–1975 ) verfügte im Unterschied zu den meisten anderen Mitgliedern
des Wiener Kreises über keine Ausbildung in Physik oder Mathematik. Neben Philoso-
phie hatte er in Wien Geografie und Geschichte studiert , weshalb Kraft den Geistes- bzw.
Kulturwissenschaften näher stand als so manch anderes Wiener-Kreis-Mitglied. Bei ei-
nem Auslandsaufenthalt in Berlin hatte er zudem Lehrveranstaltungen von Georg Sim-
mel , Wilhelm Dilthey und Carl Stumpf besucht. Kraft habilitierte sich schließlich 1914
bei Adolph Stöhr , Friedrich Jodl448 und Alois Höfler mit der Untersuchung Weltbegriff und
Erkenntnisbegriff ( 1912 ) für Theoretische Philosophie.449 ( Topitsch 1960b , III f. )
Kraft gehörte zu jenen , die von Beginn an regelmäßig an den Sitzungen des Schlick-
Kreises teilnahmen. Als Schlick nach Wien kam , war Kraft jedoch bereits ähnlich lan-
ge habilitiert wie Schlick , was Ernst Topitsch , Schüler und profunder Kenner Krafts , zur
Feststellung veranlasste :
[ … ], he had already reached maturity , both as a man and as a philosopher , when the group
was formed round Moritz Schlick in the 20’s and he had by then brought to completion im-
portant works entirely of his own. [ … ], he was far too independent to start again as a dis-
ciple. ( Topitsch 1976 , xi )
Die Erinnerungen über eine aktive Teilnahme Krafts an den Sitzungen decken sich im
Übrigen nicht. So erinnert sich Menger :
447 Die Schreibweisen des Vornamens variieren. Kraft publizierte sowohl mit der Schreibweise „Victor“
als auch „Viktor“. Ich werde im Text „Victor“ verwenden , bei den Literaturangaben jedoch auf jene
Schreibweise zurückgreifen , mit der der Text im Original erschien.
448 Darüber hinaus hatte Kraft zu Jodl in einem privaten Diskussionszirkel engen Kontakt , zu dem Jodl
auch Kraft eingeladen hatte. ( Jodl M. 1920 , 182 ) Nach Jodls Tod übernahm Kraft mit anderen Schü-
lern Jodls die Überarbeitung und Herausgabe von Jodls Lehrbuch der Psychologie. Wie wir sehen wer-
den , tragen nicht nur deren Erkenntnistheorien , wie von Radler ( 2006 , 52 ) bemerkt , den gemeinsa-
men Zug , stark mit anthropologischen Annahmen zu argumentieren , sondern auch deren Ethiken.
Allgemein kommt Jodl in Krafts wertphilosophischen Arbeiten jedoch auffällig selten vor.
449 Schon in seiner Dissertation hatte Kraft in Abweichung von Mach eine realistische Position entwi-
ckelt. Er teilte jedoch mit Mach das Bestreben , Philosophie in Rückbindung an die Wissenschaften
zu betreiben.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441