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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
94 Ziel schließt die Aufgabe der Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Gesellschaft und
schließlich der ganzen Menschheit zu einer Gemeinschaft mit ein , in der jeder die Möglich-
keit hat , ein befriedigendes Leben zu führen und an den Kulturgütern teilzuhaben. [ … ] Je-
der gibt seinem Leben selbst einen Sinn , indem er sich selbst Aufgaben stellt und sich nach
besten Kräften um deren Erfüllung bemüht und all die vielfältigen Aufgaben Einzelner als
Teil der großen Aufgabe der Menschheit betrachtet , deren Ziel weit jenseits der begrenzten
Zeitspanne des einzelnen Lebens liegt. ( Carnap 1963a [ 1993 , 14 f. ])
Carnap wird zeitlebens bestrebt bleiben , seinen Teil an dieser humanistischen Aufgabe zu
erfüllen , sowohl an sich selbst als auch an der Gesellschaft , und sei es durch Arbeit „auf
den eisigen Firnen der Logik“, wie es später in der Programmschrift des Wiener Kreises
von 1929 heißen wird. ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 27 ]) In der ursprünglichen
Langversion der Autobiographie erläutert Carnap selbst , wie er den missionarischen Eifer
seiner religiösen Ahnen durchaus beibehielt , wenn auch mit dem Zusatz :
although [ … ] transferred to secular aims and , in accordance with my more contemplative
than active temperament , not expressed in practical activities. ( Carnap 1957 , A7 ; zit. n. Ca-
rus 2007a , 48 )
Carnap selbst war sich also über die bleibenden entscheidenden Einflüsse seines frühen
familiären Umfeldes auf seine moralischen und ethischen Ansichten überaus bewusst.
5.2.2 Carnaps intellektuelles Milieu zur Studienzeit in Jena
5.2.2.1 Serakreis und Freistudentenschaft
1909 kam Carnap nach Jena , um dort vor allem Physik und Mathematik zu studieren.117
Die entsprechende Entfaltung seiner Persönlichkeit und die Schaffung fruchtbarer Be-
ziehungen verwirklichten sich für ihn dort während seiner Studienzeit insbesondere als
führendes Mitglied des Serakreises ,118 in dessen Runde man ihn aus heute üblicher Sicht
kaum erwarten würde.
In diesem äußerst geselligen Serakreis drückte sich weniger industriell-moder nis tischer
Zukunfts optimismus aus als romantische Zivilisationskritik , die jedoch trotzdem als mo-
derne integrative Lebensform geübt wurde. In ihm blühte etwas von dem Lebensgefühl
117 Carnap war seinem eigenen Bekunden nach schon in der Schule von der Mathematik begeistert , weil
ihre Begriffe so genau waren und es möglich war , „ihre Ergebnisse durch bloßes Denken zu bewei-
sen“. Ebenso war er von Latein fasziniert , insofern es eine rationale Struktur aufwies. ( Carnap 1963a
[ 1993 , 6 ]) Später war Carnap aufgrund seiner Faszination für Exaktheit an den empirischen Wis-
senschaften vor allem an der Physik interessiert , weil sich dort Gesetze mit genauen zahlenmäßigen
Beziehungen aufstellen ließen. ( Carnap 1963a [ 1993 , 10 ])
118 Carnap war zwei Jahre lang ( 1913–1915 ) Führer des Serakreises. ( Flitner 1986 , 142 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441