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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
148 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik
Was kann Philosophie bei Annahme eines individualistischen Expressivismus-Präskripti-
vismus und erkenntnistheoretischen Dezisionismus in Bezug auf Moral leisten ? Die Ant-
wort auf diese Frage hängt letztlich von der Ansicht darüber ab , was Philosophie über-
haupt leisten kann und soll. Carnaps Denken war von der Grundüberzeugung geprägt ,
Philosophie solle wissenschaftliche Philosophie sein. Diese fiel zunächst keineswegs mit
Logischem Empirismus zusammen. Zu Beginn seiner philosophischen Karriere experi-
mentierte er mit einer Reihe philosophischer Optionen , von denen sich einige durchaus
auch für wissenschaftlich hielten , u. a. der Neukantianismus und die Phänomenologie.
( Mormann 2000 , 38 ff. )
Im Vorwort zur ersten Auflage des Aufbaus gibt Carnap Auskunft darüber , an wel-
cher Stelle des Geschehens „unserer Zeit in Philosophie und im Gesamtleben“ er seine
Schrift sieht. Zunächst verweist er auf die Unverzichtbarkeit der modernen Logik für
die Klärung der Begriffe und zur Säuberung der Problemsituationen , wenn die Philoso-
phie willens sei , „den Weg der Wissenschaft ( im strengen Sinne ) zu betreten“ ( Carnap
1928a [ 1998 , XIII ]).
Die hier niedergeschriebenen Gedanken fühlen sich getragen von einer Schicht von tätig oder
aufnehmend Mitarbeitenden. Gemeinsam ist dieser Schicht vor allem eine gewisse wissen-
schaftliche Grundeinstellung. ( Carnap 1928a [ 1998 , XIV ])
Die neue Haltung ändere Denkstil und Aufgabenstellung. Nicht ein Einzelner errich-
te ein ganzes Gebäude der Philosophie , sondern jeder arbeite an seiner bestimmten Stel-
le innerhalb der einen Gesamtwissenschaft. Es werde die Rechtfertigung und zwingende
Begründung einer jeden These gefordert. Jede wissenschaftliche These müsse sich ratio-
nal begründen lassen. Weil sich metaphysische Thesen nicht rational rechtfertigen ließen ,
würden sie aus der Philosophie verbannt. ( Carnap 1928a [ 1998 , XIV–XV ])
Diese Position verengt sich mit der Beschränkung von sinnvollen Sätzen auf empirisch-
synthetische und analytische. Was bleibt für die Philosophie übrig , wenn alle sinnvollen
Sätze entweder empirischer Natur sind und zur Realwissenschaft gehören oder analytisch
sind ? Hierzu meinte Carnap ab 1931 :
Was bleibt , sind nicht Sätze , keine Theorie , kein System , sondern nur eine Methode , nämlich
die der logischen Analyse. [ … ] Die angedeutete Aufgabe der logischen Analyse , der Grund-
lagenforschung , ist es , die wir unter „wissenschaftlicher Philosophie“ im Gegensatz zur Meta-
physik verstehen ; an dieser Aufgabe wollen die meisten Beiträge dieser Zeitschrift [ Erkennt-
nis ; A. S. ] arbeiten. ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 103 f. ])
Mit Logische Syntax der Sprache ( 1934b ) vertrat Carnap noch stärker die radikale These , als
Philosophie bleibe nach der Verselbstständigung aller wissenschaftlich behandelbaren Be-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441