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6.3 Mengers Moralauffassung
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Norminhalte gelten. Was hier gebilligt wird , ist das Gefordertsein einer Verhaltenswei-
se ( wie in einem Imperativ ausgedrückt ), nicht aber notwendigerweise die Verbindlich-
keit dieser Forderung für alle , d. h. mit der Billigung einer Norm wird nicht zugleich ihre
Allgemeingültigkeit gebilligt , auch nicht für alle Mitglieder einer beschränkten morali-
schen Gruppe. Es ist eine Binnendifferenzierung möglich. Deshalb lehnt Menger auch
den Kategorischen Imperativ als formale Grundnorm für Moralen 1. Stufe ab. Geschuldet
ist diese Ab lehnung aber letztlich der von Menger bevorzugten Umgangsweise mit kon-
fligierenden Normensystemen und seiner liberalen Grundeinstellung. Menger bezeich net
sich selbst als einen „sensiblen Liberalen“ ( Stadler 1997a , 444 ).
Wie wichtig Menger der Liberalismus und die Liberale Partei englischer Prägung , die
bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Österreich eine einflussreiche politische Kraft dar-
stellte , waren , geht auch daraus hervor , dass er in seiner Autobiografie wiederholt auf den
Liberalismus zu sprechen kommt. U. a. führt er ausdrücklich Schlick als einen Liberalen
an ( Menger 1994 , 5 ) und hebt die wichtige Rolle des Liberalismus für das bemerkenswer-
te Kulturleben in Wien hervor.234 Auch das hohe Interesse an intellektuellen Errungen-
schaften sei dem Liberalismus zu verdanken :
Less widely known is another feature of the cultural life of Vienna , which was a heritage of
the politically defunct liberalism and was cultivated by the Social Democrats – the unusu-
ally large proportion of professional und business people interested in intellectual achieve-
ment. ( Menger 1994 , 9 )
Da Menger an einem möglichst verträglichen Zusammenleben interessiert ist , ohne den
Willen von Individuen zu beugen , kritisiert er auch den Kategorischen Imperativ.
6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ
Für Menger ist es auch bei moralischen Normen ( Imperativen ) nicht notwendig , dass
sie für das eigene und zugleich für fremdes Verhalten akzeptiert werden. Aus diesem
Grunde kritisiert er den Kategorischen Imperativ. Dieser fordert ja – zumindest in einer
Standardinterpretation – , dass das eigene Handeln nur Normen folgt , die auch von allen
anderen befolgt werden können. Wer den Kategorischen Imperativ befolgt , ist schlicht
( Menger 1934a [ 1997 , 174 ]) und hängt einem uniformen Normensystem an. Der Kate-
gorische Imperativ setze jedoch „viel zu einfache Vorstellungen von den Bedingungen
menschlichen Zusammenlebens voraus“.235 Denn wer eine allgemeine Verträglichkeit der
234 Neben künstlerischen Bewegungen geht Menger u. a. auf die Bewegungen um Josef Popper-Lynkeus ,
Otto Weininger , Karl Kraus , Richard Coudenhove-Calergi und parapsychologische Zirkel ein. Zu
einer parapsychologischen Gruppe gehörten für kurze Zeit neben dem Psychiater und Nobelpreis-
träger Julius Wagner-Jauregg auch Schlick , Hahn und Thirring. ( Menger 1994 , 12 ff. )
235 Menger in den Mund gelegt in Zelger ( 1977 , 185 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441