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4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements
84 Trotz ihrer Bemühungen um ein evolutionäres Verständnis der Geschichte menschlicher
Sittlichkeit und ihrer gleichzeitigen Zurückweisung des Sozialdarwinismus ist aus den
Schriften von Friedrich Jodl , Wilhelm Jerusalem und Josef Popper-Lynkeus – drei Banner-
träger der Wiener Aufklärung um die Jahrhundertwende – keinesfalls klar ersichtlich , wo-
rin die normative Autorität sittlicher ( und somit aufklärerischer ) Urteile bestand. Allzuoft
schrieben diese , als brauchten die Menschen nur durch eine bessere Erziehung in die Lage
versetzt zu werden , das Gute so intuitiv zu erkennen , wie es eben nur erkennbar sei : ein sol-
cher ethischer Intuitionismus aber war wegen seiner Nichtnachprüfbarkeit offensichtlich un-
haltbar. Der Aufklärungsanspruch der Wiener philosophischen Moderne war somit selbst
nicht völlig hinterfragbar. ( Uebel 2000 , 289 f. )
Ich werde später darauf zurückkommen.
Der aufklärerischen Moderne zugehörig fühlte sich nicht nur Mach , sondern auch Jodl.
Man könnte versucht sein , Jodl dem rechten Wiener Kreis zuzuordnen , Mach dem linken.
Dies wäre jedoch irreführend. Jodl war beispielsweise auch für Neurath wichtig :
Moritz Schlick , Rudolf Carnap als führende Vertreter der Wiener Schule des empirischen
Rationalismus sind würdige Nachfolger der unentwegten Antimetaphysiker Friedrich Jodl
und Ernst Mach , deren Grundeinstellung die meisten Wiener Universitätsprofessoren fremd
gegenüberstehen , die mit der Kirche und der Metaphysik ihren Frieden geschlossen haben.
( Neurath 1918a [ 1981a , 297 ])
Von 1903 bis zu seinem Tode 1912 war Jodl auch Vorsitzender der Philosophischen Gesell-
schaft der Universität Wien. ( Uebel 2000 , 139 ). Vor und nach Jodl hatte diese Funktion Alo-
is Höfler inne , dem Jodl zwiespältig gegenüberstand. Jodl wollte nicht , dass Höfler104 an
der Universität lehrt , und schon gar nicht Wissenschaftstheorie. ( Uebel 2000 , 108 ) Neu-
rath hielt ( wie auch Hahn und Frank ) einige seiner frühen Vorträge zu Jodls Zeiten in der
Philosophischen Gesellschaft ( siehe dazu unten im Neurath-Kapitel ). Der Bezug zur Philoso-
phischen Gesellschaft lief demnach nicht nur über Höfler , sondern auch über Jodl. Die Philo-
sophische Gesellschaft dürfte überdies nicht nur durch Höfler geprägt gewesen sein , wie Ue-
bel ( 2000 , 138–142 ) nahelegt. Zudem ist davon auszugehen , dass die Mitglieder des Ersten
Wiener Kreises Jodls Vorlesungen besuchten. ( Uebel 2000 , 294 )
4.3.4 Verein Allgemeine Nährpflicht
Der Verein Allgemeine Nährpflicht wurde vom Sozialreformer Josef Popper-Lynkeus ( 1838–
1921 ) gegründet , der stark von Voltaire beeinflusst war , über den er ein eigenes Werk ver-
fasste. Popper-Lynkeus , der Naturwissenschaften studiert hatte und als Ingenieur und
104 Höfler hatte die Philosophische Propädeutik Robert Zimmermanns fortentwickelt. Näheres hierzu
siehe Uebel ( 2000 , 110–138 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441