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8.2 Relativity – A Richer Truth
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Bezugspunkt von Franks Ausführungen ist demnach ein moralisches Phänomen , näm-
lich der Zusammenbruch militärischer und politischer Moral , als der das Geschehen ver-
standen wurde. Dieses lebenspraktische Geschehen wurde sodann den agnostischen und
skeptischen Zweifeln an absoluten Werten zugeschrieben. Dem wollte Frank durch seine
Teilnahme und seine regelmäßigen Beiträge etwas entgegenhalten. Frank ging es hierbei
um zweierlei : Zum einen wollte er die moderne Naturwissenschaft aus der „Schusslinie“
nehmen , die in diese seiner Ansicht nach zu Unrecht geraten war. Zum anderen legt er
seine Konzeption einer pragmatischen Ethik und einer relativierten modernen Moral dar.
8.2.2 Naturwissenschaftlicher „Relativismus“, objektive Wahrheit und ihre Wirkung auf
Moral und Politik
Frank ging es darum klarzulegen , dass nur durch die falsche Auslegung von Sätzen der mo-
dernen Wissenschaft der Eindruck erweckt werden konnte , „die Wissenschaft sei verant-
wortlich für den Relativismus , den Skeptizismus und sogar den Zynismus unserer Zeit“
( Frank 1950 [ 1952 , 47 ]). Denn der „Relativismus“ der modernen Naturwissenschaften , den
die Konferenz-Teilnehmenden für Werte- und Demokratieverfall verantwortlich machten ,
bestehe ( bloß ) in der Relativierung von wissenschaftlichen Aussagen. Dass eine solche Re-
lativierung nicht die Objektivität der Aussagen unterhöhle , verdeutlicht Frank an mehre-
ren Beispielen. Ein sehr eingängiges betrifft die Entdeckung der Antipoden. Waren vor der
Entdeckung der Antipoden die Bedeutungen der Begriffe „oben“ und „unten“ ohne Zusatz
klar verständlich und einsichtig , so mussten Aussagen , die diese Begriffe enthalten , seit de-
ren Entdeckung erläutert werden. Denn nun konnten „zwei Menschen mit gleich gutem
Verstand [ … ] mit diesen Worten Behauptungen aufstellen , die sich widersprachen“ ( Frank
1950 [ 1952 , 16 ]). Um dies zu vermeiden , mussten „oben“ und „unten“ ergänzt werden. Zu-
nächst war es hinreichend , die „Richtung von oben nach unten“ als die „Richtung , in der
die Schwerkraft auf der Erde verläuft“ zu verstehen. Als man späterhin entdeckte , dass die
Richtung der Schwerkraft an verschiedenen Stellen der Erde verschieden ist , musste noch
eine Ergänzung erfolgen. Der Satz „Mein Kopf ist über meinen Füßen , und meine Füße
sind unter meinem Kopf“ musste weiter spezifiziert werden , indem der Ausdruck „relativ zur
Schwerkraft an einem ausdrücklich beschriebenen Standort“ ( Frank 1950 [ 1952 , 17 ]) hinzu-
gefügt wurde. Wenn einer sage : „Mein Kopf ist über meinen Füßen relativ zum Schwere-
feld an meinem Standort“, und sein Antipode , sein Kopf sei über seinen Füßen relativ zum
Schwerefeld an seinem Standort , so haben beide Recht und sind überdies „im Einverständ-
nis miteinander und mit allen anderen sinngemäßen Behauptungen“ ( Frank 1950 [ 1952 , 17 ]).
Durch diese nötigen Hinzufügungen aufgrund weiterer Erkenntnisse hat sich jedoch
keineswegs ein Element des Zweifels und der Unsicherheit in Positionsangaben einge-
schlichen. Ob wir sagen wollen , mein Kopf sei über oder mein Kopf sei unter meinen Fü-
ßen , hängt durch die vorgenommenen Relativierungen nicht von persönlichen Launen ab.
( Frank 1950 [ 1952 , 17 ]) Ohne diese Hinzufügungen sind Sätze , die die Begriffe „oben“ und
„unten“ verwenden , einfach unvollständig :
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441