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5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus
92 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode
Auch wenn Carnap vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als der kühle , rationale , auf
Logik , Mathematik und Physik spezialisierte Kopf erschien ,115 als der er auch ins Gedächt-
nis der Analytischen Philosophie eingegangen ist , muss hier gleich einleitend festgehalten
werden , dass dieses Bild andere Seiten und frühe prägende Einflüsse auf Carnap verdeckt ,
die erst in den letzten Jahren vermehrt untersucht und herausgestrichen werden und wel-
che für das Verständnis von Carnaps theoretischen Ausführungen zu Moral und Ethik von
so grundlegender Wichtigkeit sind , dass sie hier nicht übergangen werden können. Es gilt
also zunächst zu klären , mit welcher Konzeption von Moral und Ethik Carnap nach Wien
kam und in welchem philosophischen , aber auch persönlichen und historischen Kontext
sich diese Ansichten herausgebildet hatten.
5.2.1 Das familiäre Umfeld
Die grundlegenden moralischen Haltungen Carnaps wurden von seiner Familie geprägt ,
wie er selbst in seiner Intellektuellen Autobiographie des Schilpp-Bandes ausführt. Hier war
insbesondere seine Mutter , Anna Carnap , von entscheidendem Einfluss. Sie wirkte nicht
nur allgemein erzieherisch auf ihre zwei Kinder , sondern unterrichtete diese drei Jahre
lang zu Hause. A. Carnap war die Tochter Friedrich Wilhelm Dörpfelds , eines bekann-
ten Reformpädagogen aus der Schule Herbarts. Dörpfeld entwickelte ein Bildungskon-
zept , in dem er Natur- und Gesellschaftskunde mit religiöser Bildung verband. In diesem
Sinne wurde Carnap von seiner Mutter unterrichtet und erzogen.
Für den Pietismus , dem Dörpfeld und A. Carnap nahe standen , stehen nicht geteil-
te Dogmen , sondern persönliche Haltungen im Mittelpunkt. So berichtet Carnap in sei-
ner Autobiographie schon auf der ersten Seite , dass es seiner Mutter in Moral und Religi-
on um Wahrhaftigkeit zu tun war , nicht um dogmatische Inhalte :
Meine Eltern waren tiefreligiös ; ihr Glaube durchdrang ihr ganzes Leben. Meine Mutter
pflegte uns einzuprägen , daß das Wesentliche an der Religion nicht so sehr das Bekenntnis
zu einem Glauben sei , sondern gute Lebensführung ; [ … ]. ( Carnap 1963a [ 1993 , 5 ])
In der ursprünglichen , längeren Version der Autobiographie , die nur in gekürzter Form im
Schilpp-Band veröffentlicht wurde , erläuterte Carnap ausführlicher :
115 „Was mich an allen empirischen Wissenschaftszweigen außer Physik störte , war der Mangel an Klar-
heit in den Begriffserklärungen und Gesetzesformulierungen und die zahlreichen ungenügend ver-
knüpften Tatsachen.“ ( Carnap 1963a [ 1993 , 11 ]) Carnap interessierte sich dennoch für parapsycholo-
gische Phänomene. ( Patzig 1966 , 103 ) Auch 1963 betont Carnap : “The hypotheses of telepathy and
other forms of extra-sensory perceptions , of psychokinesis , and the like , are certainly empirical hy-
potheses , not fundamentally different from other hypotheses in science.” ( Carnap 1963e , 876 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441