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1.2 Der Wiener Kreis
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Der Wiener Kreis weist also unscharfe Ränder und eine ausgeprägte Binnendifferenzie-
rung auf. Diese Vielfältigkeit könnte nach einigen Jahrzehnten einschlägiger philoso-
phiehistorischer Forschung – nicht zuletzt jener des Instituts Wiener Kreis – hinlänglich
bekannt sein. Dem ist leider nicht so. Es wird dem Wiener Kreis als historischem Phä-
nomen nicht gerecht , Repräsentantinnen oder Repräsentanten auszuwählen , deren Po-
sitionen über die Grundhaltung hinaus als pars pro toto genommen werden , selbst dann
nicht , wenn es sich um so zentrale Figuren wie Carnap handelt. Dies gilt , wie die vor-
liegende Untersuchung aufzeigen wird , auch für die Rolle und den Stellenwert von Mo-
ral und Ethik im Wiener Kreis , sowohl in den gemeinsamen als auch den trennenden
Auffassungen.
Fraglich ist deshalb selbst , ob überhaupt von „Mitgliedern“ des Wiener Kreises gespro-
chen werden kann. „Mitglied“ könnte eine Einheit und formale Zugehörigkeit suggerie-
ren , die in diesem Fall nicht bestand. Trotz dieser Schwierigkeiten werde ich den Ausdruck
weiterhin gebrauchen , weil er durchaus geläufig ist und es keine adäquatere Alternative zu
geben scheint. Stets nur von Teilnehmerinnen oder Teilnehmern zu sprechen , würde den
Zusammenhalt wiederum als einen zu losen unterstellen.
1.2.4 Wiener Kreis und Logischer Empirismus
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die Rolle und die Konzeptionen von
Moral und Ethik im historischen Wiener Kreis. Die Gruppe und ihre fachlichen und per-
sönlichen Beziehungen zu ihr als Auswahlkriterium zu nehmen , erlaubt , theoretisch mög-
lichst unvoreingenommen an die Werke und die darin vertretenen Positionen heranzuge-
hen. Der Wiener Kreis ist jedoch eng mit der Position des Logischen Empirismus , soweit
sich eine solche festlegen lässt , verbunden. Diese bildet jedoch nicht den einzigen Bezugs-
punkt , zumal diese häufig ohnehin auf Carnap eingeschränkt wird :
Historians of philosophy , however , as historians are wont , simplify and condense , and they
have contributed , in their turn , to the tendency today to equate logical empiricism with
Carnap , a suggestion which he himself would be the last person to accept. ( Naess 1968 , 33 )
Zumindest die Berliner Gruppe um Hans Reichenbach , Walter Dubislav , Kurt Grel-
ling und Carl Gustav Hempel müsste für einen Fokus auf den Logischen Empirismus
insgesamt stärker berücksichtigt werden. In der vorliegenden Untersuchung wird deren
Wichtigkeit für den Logischen Empirismus allgemein anerkannt , doch werde ich nur
ergänzend und in Exkursen auf diese Gruppe eingehen können. Ihre gleichwertige Be-
rücksichtigung hätte den Rahmen dieser Untersuchung gesprengt. Eine eigene Unter-
suchung wäre jedoch durchaus wünschenswert. Insbesondere Reichenbachs Ethikauf-
fassung , wie er sie u. a. in The Rise of Scientific Philosophy ( 1951 ) vorgelegt hat ( siehe dazu
Pauer-Studer 1993 ), müsste darin behandelt werden. Darüber hinaus wäre die Verbin-
dung der Berliner Gruppe über Kurt Grelling und Grete Hermann zum ethischen Sozi-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441