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6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches
Zusammenleben
6.1 Einleitung
Karl Menger ( 1902–1985 ), Sohn des liberalen Nationalökonomen und Gründers der Ös-
terreichischen Schule der Nationalökonomie Carl Menger ,205 zählt trotz seines Alters
zur mittleren Generation des Wiener Kreises , da er bereits im Alter von 25 Jahren dem
Kreis als außerordentlicher Professor angehörte. Als sein Hauptbeitrag zur Ethik gilt sei-
ne Schrift Moral , Wille und Weltgestaltung. Grundlegung zur Logik der Sitten aus dem Jahre
1934. Dieser Titel darf wohl als eine Anspielung auf Schopenhauers Die Welt als Wille und
Vorstellung und Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verstanden werden. ( Menger
1934a [ 1997 , 65 ], Anmerkung des Herausgebers ) Im nun folgenden Kapitel wird es vor al-
lem um diese Schrift gehen.206 Insbesondere wird mich
– wie bei den Beiträgen der ande-
ren Mitglieder des Wiener Kreises – diesbezüglich interessieren , was Menger mit dieser
Schrift zur philosophischen Debatte über Moral und Ethik beigetragen hat , ob bzw. in-
wiefern seine Positionen die Ethik und / oder die Moral gefährden , ob Menger etwas für
die moralische Praxis und die Angewandte Ethik anzubieten hat und wie sich diesbezüg-
lich ein Vergleich mit der Standardauffassung darstellt.
Obwohl Menger in der üblichen Unterscheidung zwischen linkem und rechtem Flü-
gel dem rechten Flügel zugeordnet wird und Carnap dem linken , liegt er , wie ich zeigen
werde , in seinem Verständnis davon , was Moral ist und was die Philosophie bzw. Theorie
zu dieser Praxis beitragen kann , näher bei Carnap als bei Neurath oder gar Schlick , wes-
halb seine Ansichten hier direkt im Anschluss an Carnaps Ethik und vor jener Neuraths
und Schlicks behandelt werden.
205 Carl Menger war Professor an der Universität Wien , Lehrer Kronprinz Rudolfs und ab 1900 le-
benslängliches Mitglied des Herrenhauses. Er und die Mutter Karl Mengers , Hermine Andermann
( 1869–1924 ), vermutlich eine Feuilletonistin ( Kosel 1902 , 224 ), waren nicht miteinander verheiratet.
Mengers Geburtsurkunde bezeugt ihn jedoch als eheliches Kind. ( Diese Information verdanke ich
Bernhard Beham , der an einer Biografie Mengers arbeitet. ) Eine solche Legitimation war aufgrund
einer Begünstigung durch den Landesfürsten möglich ( § 162 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbu-
ches ). Nach der Geburt des Sohnes tritt Carl Menger 1903 bereits 63-jährig von seinem angesehe-
nen Lehrstuhl zurück. Als offizieller Grund wird der Wunsch nach intensiveren Studien angegeben.
Tatsächlich war der Rücktritt wohl den gesellschaftlichen Konventionen geschuldet , die seine recht-
lich nicht anerkannten Familienverhältnisse missbilligten. ( Siehe dazu u. a. Skousen 2001 , 179 ; Schu-
lak / Unterköfler 2009 , 48 ff. Belege dafür und für eine Klärung des Verhältnisses der Eltern sowie ge-
nauere Informationen zur Mutter konnten bislang nicht gefunden werden. )
206 Dieses Kapitel ist in Teilen eine überarbeitete Fassung der von mir verfassten Abschnitte aus Sie-
getsleitner / Leitgeb 2010.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441