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402 12. Systematische Zusammenfassung und
allgemeine Schlussbemerkungen
In der folgenden systematischen Zusammenfassung werde ich darlegen , wie sich die Po-
sitionen der Wiener-Kreis-Mitglieder sowohl zur vorherrschenden Sicht der Rolle und
der Konzeptionen von Moral und Ethik im Wiener Kreis als auch zur Standardauffassung
logisch-empi ristischer Ethik verhalten , wenn nun die neueren und hier gewonnenen For-
schungsergebnisse zugrunde gelegt werden. Ich werde mich dabei auf die Wiener-Kreis-
Periode der einzelnen Mitglieder konzentrieren , weshalb das hier Gesagte nicht bei allen
Mitgliedern für ihr ganzes Leben und Schaffen gelten muss. Für Entwicklungsfragen sei
auf die jeweiligen Kapitel verwiesen. Es wird noch einmal deutlich werden , inwiefern die
vorherrschende Sicht zu revidieren ist.
12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen
und Bürgerinnen oder Bürger
Das vorherrschende Bild der Rolle sowie der Konzeptionen von Moral und Ethik im Wie-
ner Kreis ist durch die Ansicht geprägt , dessen Mitglieder hätten wenig bis keinerlei In-
teresse an Moral und Ethik gezeigt , ihr Interessenshorizont hätte sich auf Wissenschaft
( insbesondere Naturwissenschaft ), Logik und im besten Falle noch allgemeine Erkennt-
nistheorie beschränkt. In einer dieser Ansichten , die meist als Vorwürfe geäußert werden ,
wird behauptet , Moral sei für die Mitglieder des Wiener Kreises persönlich als Menschen
und Bürgerinnen oder Bürger unwichtig gewesen. Diese Behauptung kann aufgrund des-
sen , was in dieser Untersuchung ausgeführt wurde , klar zurückgewiesen werden.
Wie ich vor allem in Kapitel 4 , aber auch bei den einzelnen Mitgliedern dargelegt habe ,
fand sich bei diesen ein großes Interesse an moralischen und politischen Fragen. Dieses
mündete in unterschiedlicher Form und Intensität in einem ent sprechenden Engagement ,
dessen kulturelles und politisches Umfeld insbesondere von Stadler in mehreren Publi-
kationen ( mit Stadler 1982a beginnend ) behandelt wurde. Zweifelsohne waren viele Mit-
glieder des Wiener Kreises partei- bzw. gesellschaftspolitisch oder sozial aus moralischen
Beweggründen heraus aktiv. Das Engagement reichte von karitativen Tätigkeiten ( z. B. bei
Schlick ) über die Mitwirkung in überparteilichen sozialen Bewegungen und Einrichtun-
gen ( Volksbildungsbewegung , Monistenbewegung , Ethische Bewegung , Verein Allgemei-
ne Nährpflicht ) bis hin zur Mitarbeit in Organisationen , die der Sozialdemokratischen Arbei-
terpartei ( SDAPÖ ) nahestanden. Festgehalten sei diesbezüglich , dass Carnap in Wien von
parteipolitischen Aktivitäten absah und Neurath nie eine Parteifunktion in der SDAPÖ
inne hatte. Dieses Engagement geschah im Sinne einer geteilten moralischen Haltung :
des wissenschaftlichen Humanismus.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441