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10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
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Insofern die Kultur als Zielsetzung des individuellen Lebens anerkannt werden müsse ,527
ist sie für Kraft wie die Sozialmoral allgemeingültig :
Die dargelegte soziale Moral und die Individualmoral ist die einzige Moral , die durch Er-
kenntnis begründet werden kann und damit Allgemeingültigkeit erhält. ( Kraft 1968 , 142 )
In beiden Fällen handelt es sich theoretisch um hypothetische Imperative. Da die Zielset-
zungen jedoch praktisch nicht abzuweisen seien , hätten sie praktisch den Charakter kate-
gorischer Imperative. ( Kraft 1968 , 143 ) Insofern scheint die Analyse durch Wulf Kellerwes-
sel , der knapp , aber sehr zutreffend Krafts Moralbegründung abhandelt , berechtigt , Kraft
gehe es letztlich um die Geltung kategorischer Imperative. ( Kellerwessel 2003 , 257 ) Auf-
grund der überzeitlichen und regional nicht variierenden Zielsetzungen geht Kraft 1973 in
seinem Aufsatz „Die Giltigkeit von Aussagen“ sogar so weit zu sagen :
[ … ] die moralischen Normen [ haben ] eine Allgemeingiltigkeit , die weder zeitlich noch re-
gional beschränkt ist. ( Kraft 1973b , 72 )
10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Für Kraft zählt eine deskriptiv-empirische Ethik klar zu den Aufgaben der Ethik , die er
auch nicht vollständig an andere Disziplinen abtreten wollte. Schon 1937 stand für ihn fest ,
Ethik könne moralische Werte , Werturteile , Normen etc. als Tatsachen empirisch unter-
suchen. Sie könne diese beschreiben , ordnen , klassifizieren , psychologisch oder soziolo-
gisch erklären und in ihrer historischen Entwicklung verfolgen. In Übereinstimmung mit
der vorherrschenden Sicht der Ethik im Wiener Kreis zählen für Kraft solche empirischen
Untersuchungen ( psychologische , soziologische , historische ) zu den legitimen Aufgaben
der Ethik. Er verweist auch darauf , dass der Positivismus solche Untersuchungen von je-
her zugestanden habe , und nennt Arbeiten von Emile Durkheim , Lucien Lévy-Bruhl und
Edvard Westermarck528 als herausragende Beispiele. ( Kraft 1937 , 224 )
Neben der empirischen Ethik gehören metaethische Untersuchungen für Kraft ohne
Zweifel zu den legitimen Aufgaben der Ethik. Hierin fällt vor allem seine Analyse mora-
lischer Wertbegriffe im Rahmen einer allgemeinen Wertlehre. Der moralische Standpunkt
ist für ihn ein überindividueller. Auf der Basis eines gemeinsamen Begriffs des moralisch
Guten , der immer auch eine Sachkomponente enthält , sind Verständigung , logische Zu-
527 Da die Kultur als unabweisbares Ziel ab 1963 nur mehr für die Individualmoral eine begründende
Rolle spielt , kann Krafts Moraltheorie insgesamt nicht als Kultur-Utilitarismus bezeichnet werden ,
wie Vollbrecht 2004 dies vorschlägt.
528 Diesen empfahl auch Schlick zur Lektüre.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441